Die „vollmundige“ Begeisterung der Bundesregierung für die „größte Steuerreform aller Zeiten“, die Entlastung der Lohn- und Einkommenssteuerzahlenden im Ausmaß von fünf Milliarden Euro, kann der Industrielle und frühere Vizekanzler Hannes Androsch nicht teilen: „Das ist überhaupt keine Reform“, sondern nur „eine längst überfällige Korrektur“, eine „Teilrückgabe dessen, was schon lange zu viel einbehalten wurde.“ Das Paket für die Gegenfinanzierung hält Androsch lediglich für eine „unglaubliche Murkserei“.

"Wahrnehmungsverlust"

Der SPÖ/ÖVP-Koalition wirft Androsch vor, an „Wahrnehmungsverlust und Realitätsverweigerung“ zu leiden. 15 Milliarden Euro würden in den öffentlichen Haushalten Österreichs hinausgeworfen, rechnet Androsch vor. Seine Diagnose lässt kaum Hoffnung auf rasche Besserung aufkommen: Es werde fünf bis zehn Jahre dauern, um eine Therapie erfolgreich einzuleiten; denn einen Hebel, den es zur Gesundung des Staatshaushaltes umzulegen gelte, gebe es nicht.

"Hacklerpension abschaffen"

Ein wichtiger Ansatzpunkt sei die Abschaffung der Hacklerpension, von der der öffentliche Dienst am meisten profitiere: das spare drei Milliarden Euro. Ein ebenso hoher Betrag sei im Gesundheitswesen einzusparen, würden Klein- und Kleinstspitäler geschlossen, die Zahl an Akutbetten reduziert und Belagszeiten gekürzt. Fehlende Reformen im Pensionsbereich prangerte Androsch ebenfalls an: Schon Ende der Siebzigerjahre habe er sich um Reformen bemüht, diese seien damals an Kanzler Bruno Kreisky gescheitert. „Was heute bei den Pensionen geschieht, ist unverantwortlich gegenüber Kindern und Enkelkindern.“

„Keine Bildungsreform“

Hart in die Kritik ging Androsch im „Salon“-Gespräch mit Ernst Sittinger, Wirtschaftschef der Kleinen Zeitung, beim Thema Bildung: „Das, was präsentiert wurde, hat mit Bildungsreform nichts zu tun.“ Lähmende Kräfte – die Landeshauptleute und Teile der Lehrergewerkschaft – hätten den Elan der großkoalitionären Verhandler Gabriele Heinisch-Hosek und Harald Mahrer gebremst. An Ganztags- und Gesamtschulen führe aber kein Weg vorbei. „Wir haben zu viele Lehrpläne und zu wenig Unterricht.“
Im SP-internen Streit um den zukünftigen Kurs in der Flüchtlingskrise sieht sich Androsch („ausnahmsweise“) auf der Seite des Kanzlers. Diese Krise konnte man seit zwei Jahren vorhersehen, schließlich habe sie sich schon lange in Griechenland und Italien manifestiert. Dennoch wurstle man in Europa, „jeder auf seine eigene Weise“, vor sich hin.

"Hilfsbereiter als heute"

Zur Veranschaulichung der Leistungsfähigkeit in der Asylfrage zog Androsch Vergleiche mit der Bosnien- und Ungarnkrise – und der Zeit davor: „Als es uns sehr schlecht gegangen ist, waren wir hilfsbereiter als heute. 30 Millionen Flüchtlinge konnten nach dem Zweiten Weltkrieg bewältigt werden.“ Sorgen und Ängste verstehe er, es fehle aber an Gründen: „Wir haben eine steigende Gesamtbeschäftigung mit einer großen Zahl an Saisonarbeitern.“
Ohne Pflegekräfte aus Rumänien und der Slowakei gäbe es heute „eine Katastrophe in der Pflegeversorgung. Würde man Wiener Spitälern zugewandertes Personal wegnehmen, könnte man sie zusperren.“ Auch der Tourismus sei auf die große Zahl an Saisonarbeitskräften angewiesen. Androsch, Besitzer eines Hotels in Maria Wörth, gab ein anschauliches Beispiel für mangelnde Flexibilität am heimischen Arbeitsmarkt: „Wenn sie eine Rezeptionsdame für ein Hotel, zwölf Kilometer von Klagenfurt entfernt, suchen, lernen Sie, dass das nicht zumutbar ist.“

Comeback ausgeschlossen

Auf ein mögliches Comeback angesprochen – der deutsche Politiker Konrad Adenauer kam erst mit 73 Jahren ins Kanzleramt und hatte damals noch über zehn Jahre Kanzlerschaft vor sich, meinte Androsch: „Das gilt nicht für mich.“ Er habe bereits seinen Beitrag zur Unterstützung des Gemeinwohls geleistet. Man könne politisch tätig sein, ohne ein politisches Amt zu bekleiden.
In diesem Kontext vermutete Androsch, dass auch historische Politikerpersönlichkeiten im aktuellen österreichischen Biotop zum Scheitern verurteilt wären: „Selbst wenn wir Metternich, Bismarck oder Churchill zurückholten oder einen Schröder ausborgten, würden wir an einer verkrusteten, verrosteten Struktur der Machtverhältnisse leiden.“ Eine Struktur, in der es Machtzentren gebe, „die so stark sind, um alles zu verhindern, und zu schwach, um etwas Positives zu verändern.“

"Regieren war leichter"

Der heute 77-Jährige gestand ein, in den Siebzigerjahren sei es leichter gewesen zu regieren als heute. Einen Seitenhieb auf den jüngsten Medienauftritt von Kanzler Faymann und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner konnte sich Androsch jedoch nicht verkneifen: „Damals gab es ein Pressefoyer, heute ist es ein Dienstagmittag-Kabarett.“ Keine Präferenzen ließ Androsch für mögliche Präsidentschafts-Kandidaten erkennen, auch zu Tipps ließ er sich nicht hinreißen. Deutlich wurde seine fehlende Begeisterung für die einzige bisher deklarierte Kandidatin, Irmgard Griss, – und, dass dieser Kandidat keinesfalls Androsch heißen werde.

UWE SOMMERSGUTER, MANFRED NEUPER