Zweierkoalitionen sind in Europa ein Auslaufmodell. In 17 der 27-EU-Länder lenken Dreier-, Vierer- bis hin zu Sechser- und Siebener-Koalitionen die Geschicke des Landes. Wenn Österreich nun auf eine Dreierkoalition zusteuert, sind wir im europäischen Mainstream angekommen. Die Fragmentierung der politischen Landschaft ist den Ermüdungserscheinungen der alten Großparteien geschuldet.
Zweierkoalition als europäisches Auslaufmodell
Die Zusammenstellung der jeweiligen Regierung spiegelt im Regelfall das Kräfteverhältnis im Parlament wider. 2019 fuhr etwa die ÖVP mit 37 Prozent fast dreimal so viele Stimmen ein wie die Grünen (13 Prozent). Spiegelbildlich die Zusammensetzung der Regierung, in der die ÖVP fast dreimal so viele Minister wie die Grünen aufweist (elf und vier). Die beiden Parteichefs, zuerst Sebastian Kurz und nach der Alexander Schallenberg-Interimslösung Karl Nehammer auf türkiser Seite sowie Werner Kogler von den Grünen, stellen Kanzler und Vizekanzler.
So gesehen kann man davon ausgehen, dass in der künftigen Regierung die ÖVP mit 26,3 Prozent sowie die SPÖ mit 21,1 Prozent etwa gleich viele Minister erhalten werden, die Neos mit 9,1 Prozent deutlich weniger, zwei, allenfalls drei Minister. Doch wie sieht es an der Spitze aus? Welche Funktionen nehmen künftig SPÖ-Chef Andreas Babler und Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger ein?
In Europa haben viele Länder mehrere Vizepremiers
Wirft man einen Blick auf Europa, fällt auf, dass in vielen Ländern bei Mehrparteienkoalitionen die stimmenstärkste Partei den Regierungschef stellt, die anderen Partner in die Rolle des Stellvertreters schlüpfen. In Italien koalisiert Giorgia Meloni mit Lega und Forza Italia, deren Chefs Matteo Salvini und Antonio Tajani fungieren als Vizepremiers. In den Niederlanden führt der parteilose Dick Schoof eine Vierparteienkoalition an, ihm zur Seite stehen vier Stellvertreter, die die vier Koalitionspartner abbilden. In Belgien regiert bis auf Weiteres eine Siebenparteienkoalition, Premierminister Alexander De Croo kann auf sechs Vizepremiers zurückgreifen (bei in Summe 15 Regierungsmitgliedern) , wobei jeder auch einem eigenen Ministerium vorsteht. Ähnlich die Lage in Tschechien, der Slowakei, Slowenien, Polen, wo aufgrund der Größe der Koalition die Zahl der Vizepremiers ausgeweitet wurde. Und in Österreich? Gibt es mit Andreas Babler und Meinl-Reisinger erstmals zwei Vizekanzler?
Verfassung atmet den Geist des Proporzdenkens
„In Österreich ist die Verfassung bei der Bundesregierung noch vom alten Proporzdenken geprägt“, ätzt einer der Regierungsverhandler. Denn in sechs der neun Bundesländer hat jeder Landeshauptmann automatisch zwei Stellvertreter (ausgenommen Steiermark, Vorarlberg, Burgenland), nahezu allen Landtagspräsidenten stehen zwei Vizes zur Seite, Nationalratspräsident Walter Rosenkranz kann sich ebenso doppelt, vertreten lassen, durch Peter Haubner und Doris Bures, wie auch der Bundesratspräsident. In allen Landeshauptstädten gibt es zwei stellvertretende Bürgermeister, Graz und Bregenz ausgenommen. Linz hat sogar drei. Und die Tiroler Landesverfassung sieht vor, dass Gemeinden über 5000 Einwohner (!) zwei Stellvertreter wählen müssen.
Theoretisch könnte ÖVP Kanzler und Vizekanzler stellen
Diese eherne Gesetz gilt nicht für die Regierung. Es wäre durchaus angemessen, dass jeder Koalitionspartner de facto im Kanzleramt angesiedelt wird. Die Bundesverfassung sieht ausdrücklich nur einen Vizekanzler vor. Im Umfeld des Verfassungsdienstes vernimmt man, dass die Verfassung geändert werden müsste, sollte die Dreierkoalition auf einen Kanzler und zwei Vizekanzler bestehen. Wer in die Rolle des Vizekanzlers schlüpft, ist Verhandlungssache. Theoretisch könnte der Erstplatzierte den Kanzler und den Vizekanzler stellen, auch wäre möglich, dass die ÖVP den Kanzler erhält und die Neos den Vizekanzler, die SPÖ dafür ein Superressort oder das Finanzministerium erhalten.
Auch in Deutschland nur ein Vizekanzler
Deutschland sowie die nordischen Länder gehen ähnliche Wege. In Berlin regierte bis zum jüngsten Bruch eine Dreierkoalition, Vizekanzler ist allerdings nur Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grünen). FDP-Chef Christian Lindner ist einfacher Minister, steht aber dem mächtigen Finanzministerium. In Finnland, Schweden, Dänemark begnügt man sich in Mehrparteienkoalitionen auch nur mit einem Vizepremier. Freilich gilt diese Sparvariante dort auch auf regionaler und lokaler Ebene - im Unterschied zu Österreich.