Heute findet in Vorarlberg die Landtagswahl statt. Normalerweise interessieren Wahlen hinter dem Arlberg kaum jemanden. Warum auch? Zum einen ist es der Kleinheit des Landes geschuldet - nur 410.000 der knapp 9,2 Millionen Österreicher leben hier - zum anderen auch der mangelnden Brisanz der Wahlauseinandersetzungen und -ergebnisse.

Die Vorarlbergerinnen und Vorarlberger wählen heute bis längstens 13 Uhr, um etwa 14.30 Uhr gibt es die erste Hochrechnung, am frühen Abend steht fest, dass die ÖVP mit deutlichem Abstand gewonnen hat und sich in aller Ruhe aber doch recht schnell einen Koalitionspartner aussucht. Anforderungsprofil: wenig inhaltliche und personelle Forderungen für die nächsten fünf Jahre. Relevanz für die Bundespolitik oder für kurz nachher anstehende Bundesländerwahlen praktisch gleich Null. 

Das war auch beim letzten Wahlgang 2019 so. Die ÖVP ging mit 43,5 Prozent der Stimmen als haushoher Sieger durchs Ziel, die erstmals den zweiten Platz erobernden Grünen mit starken 18,9 Prozent, die Nach-Ibiza-FPÖ stürzte von 23,4 auf 13,9 Prozent der Stimmen ab, SPÖ und Neos blieben einstellig.

FPÖ-Spitzenkandidat Christof Bitschi
FPÖ-Spitzenkandidat Christof Bitschi © APA / Angelika Grabher-Hollenstein

Dieses Mal könnte das erstmals ganz anders sein, so verspricht es zumindest die am 9. September in den Vorarlberger Nachrichten veröffentlichte Spectra-Umfrage, die vor allem bei der ÖVP wie eine Bombe einschlug. War der Abstand bei der letzten Wahl zwischen ÖVP und FPÖ noch bei fast 30 Prozent, so sieht die im August durchgeführte Umfrage die Blauen nur noch 3 Prozent hinter den Schwarzen und das bei einer Schwankungsbreite von 4,4 Prozent.

Und dass diese Umfrage mit dem recht kleinen Sample nicht nur Schall und Rauch ist, bestätigte sich spätestens vor zehn Tagen bei den Nationalratswahlen, als zwischen den beiden Parteien gerade einmal zwei Prozent oder nur 3.926 Stimmen lagen. In 29 der 96 Vorarlberger Gemeinden erreichte die FPÖ gar Platz 1 in der Wählergunst, darunter mit Bludenz, Hohenems und Feldkirch auch in 3 von 5 Städten. Ein echtes Wahlbeben.

SPÖ-Spitzenkandidat Mario Leiter
SPÖ-Spitzenkandidat Mario Leiter © APA / Elisabeth Gut

Am meisten Hoffnung, dass in Vorarlberg nicht alle politischen Dämme brechen, macht den Schwarzen ein Blick auf das in der Vergangenheit traditionell unterschiedliche Wahlverhalten der VorarlbergerInnen auch bei knapp zusammenliegenden regionalen und nationalen Wahlen. 2019 erreichte die ÖVP wenige Wochen nach der Nationalratswahl bei der Wahl zum Landesparlament einen knapp 7 Prozent höheren Stimmenanteil, die FPÖ hingegen lag in Vorarlberg hinter dem nationalen Ergebnis. Auch bei einem weiteren Blick zurück ein bisher gewohntes Bild. 

Dieses Wahlverhalten war aber unter anderen Vorzeichen, denn noch nie war ein Szenario möglich, das die ÖVP nicht auf Platz 1 landen könnte. „Das gibt Rückenwind“, macht auch FPÖ-Spitzenkandidat Christof Bitschi (33) kein Hehl daraus, dass die Freiheitlichen Historisches schaffen könnten. Dennoch hält der junge Herausforderer bei Prognosen gekonnt den Ball flach, spricht davon, den Abstand zur ÖVP so gering wie möglich zu halten. Er weiß, dass bei einer Zuspitzung auf ein Duell eher der amtierende Landeshauptmann profitieren könnte als er.  

Claudia Gamon, Neos-Spitzenkandidatin
Claudia Gamon, Neos-Spitzenkandidatin © APA / Elisabeth Gut

Bitschi versteht es auch meisterhaft, den Kickl-Hype zu nutzen, aber dennoch eine gewisse Distanz zum Parteiobmann zu wahren. Die Bundespartei mache inhaltlich einen hervorragenden Job und positioniere sich genau richtig, in der Vorarlberger Politik sei es aber traditionell so, dass man „ein bisschen ruhiger und zurückhaltender formuliere“, drückt sich Bitschi alemannisch höflich aus. Die Vorarlberger FPÖ verzichtete daher sowohl vor der Nationalratswahl als auch vor der Landtagswahl gänzlich auf Wahlkampfauftritte ihres Bundesobmannes. 

Und wie reagiert der am längsten dienende Landeshauptmann Österreichs, Markus Wallner (57), auf die brisante Entwicklung? Er versucht sehr wohl die Wahlauseinandersetzung auf ein Duell zwischen ihm und seinem 24 Jahre jüngeren Herausforderer zu reduzieren, will damit vor allem potenzielle Grün- und Pink-Wähler, die einen Sieg der Blauen unbedingt verhindern möchten, für sich gewinnen. Sehr zum Ärger dieser Parteien. 

Grünen-Spitzenkandidat und Parteichef Daniel Zadra und Co-Parteichefin Eva Hammerer
Grünen-Spitzenkandidat und Parteichef Daniel Zadra und Co-Parteichefin Eva Hammerer © APA / Angelika Grabher-Hollenstein

Neos-Spitzenkandidatin Claudia Gamon (35) richtete sich daher am Dienstag per halbseitigem Inserat in den Vorarlberger Nachrichten an die Leserinnen und Leser. Ihre Kernbotschaft in einem offenen Brief: das ausgerufene Duell sei gar keines, es sei völlig klar, dass Markus Wallner auch nach der Wahl wieder Landeshauptmann sein werde. Dabei zitiert sie Wallner selbst, der ein paar Tage zuvor davon gesprochen hatte, dass „Platz 2 für die ÖVP unvorstellbar sei“. Und Gamon legt im Inserat nach. Wenn es bequem sei, werde der aktuell am längsten regierende Landeshauptmann Österreichs seine Macht auch gemeinsam in einer Koalition mit der FPÖ ausüben. Von wegen Duell.

Auch die in Vorarlberg traditionell sehr starken Grünen schlagen in eine ähnliche Kerbe. „Dieses schöne Land will ich mir nicht von der FPÖ kaputt machen lassen“, findet der frühere Parteichef und Noch-Gesundheitsminister Johannes Rauch (65) drastische Worte. Er werde daher mit allem was er habe und an der Seite der Doppelspitze Daniel Zadra (39) und Eva Hammerer (48), für eine Fortsetzung der schwarz-grünen Koalition im Bregenzer Landhaus kämpfen. Klare Botschaft: eine Stimme für die Grünen ist keine verlorene Stimme im Machtpoker. 

Schwierige Beziehung zu den Grünen

In eine Koalition mit der ÖVP – alle Parteien, sogar die Freiheitlichen, gehen derzeit von keiner historischen Wahlsensation aus - drängen aber nicht nur die seit 2014 mitregierenden Grünen, sondern auch Neos, SPÖ und die FPÖ. Alle ziehen eine Regierungsbeteiligung der Oppositionsbank vor, haben Wallner bereits Avancen gemacht. Rein rechnerisch dürfte allerdings eine Zweierkoalition, traut man den Umfragen und Einschätzungen der Politikwissenschafter, nur mit den Grünen oder der FPÖ realistisch sein.

Und dann könnten die Augen der Bundespolitik doch für einmal auf Vorarlberg gerichtet sein, vor allem dann, wenn die ÖVP die FPÖ ins Boot holt und weniger Berührungsängste zeigt als die Parteifreunde in der Wiener Zentrale. Ein durchaus mögliches Szenario, ist doch die Beziehung zu den Grünen nach zehn gemeinsamen Regierungsjahren in Vorarlberg merklich abgekühlt.

Aber bevor in Wien oder in der Steiermark die Köpfe in den Parteizentralen rauchen, sind die Vorarlberger Wähler am Wort. Noch sind zwei völlig unterschiedliche Szenarien möglich: das von Landeshauptmann Wallner zitierte „Unvorstellbare“ oder, bei ähnlichem Wählerverhalten wie in der Vergangenheit, doch wieder „Business as usual“.

Christian Ortner war von 2002 bis 2013 Chefredakteur der Vorarlberger Nachrichten. Danach Wechsel zur NZZ-Mediengruppe, seit 2019 bei CH Media.