In der Öffentlichkeit herrscht die Meinung vor, dass der Bundespräsident verpflichtet ist, nach der geschlagenen Wahl den Erstgereihten mit der Regierungsbildung zu betrauen. Die FPÖ behauptet, dass ein Abgehen von der Praxis einem Bruch der Verfassung gleichkäme. Im Kleine-Zeitung-Interview schlug FPÖ-Chef Kickl in dieselbe Kerbe. „Er muss mich nicht angeloben, aber er bricht damit die Verfassung.“ Es sei zwar nicht alles ausdrücklich geregelt, aber „es gibt die Grundbausteine, die den Geist der Verfassung zum Ausdruck bringen.“
Verfassungsrechtler Bernd-Christian Funk verweist auf Nachfrage auf den Text der Verfassung, die dem Bundespräsidenten „ganz bewusst jegliche Entscheidungsfreiheit“ einräumt. „Wir haben es mit einer Spielregelverfassung zu tun, die der Politik keine inhaltlichen Vorgaben macht.“
Tatsächlich findet sich in Artikel 70 keine einzige Silbe über etwaige Sondierungsverhandlungen, auch fehlt der Hinweis über die Umstände der Regierungsbildung, ganz zu schweigen davon, wer damit zu betrauen sei. Festgehalten wird lediglich, dass der Bundeskanzler sowie auf dessen Vorschlag die übrigen Mitglieder der Bundesregierung „vom Bundespräsidenten ernannt“ werden.
Bisher war es Usus, dass der Chef der stimmenstärksten Partei die neue Regierung gebildet hat und ins Kanzleramt eingezogen ist - und zwar auch deshalb, weil man über die nötige Mehrheit verfügte. Ausgerechnet die ÖVP und die FPÖ stellten die Praxis im Jahr 2000 auf den Kopf, als beide die stimmenstärkste Partei, die SPÖ, ausgebootet haben.
Entscheidend ist somit, ob der Erstgereihte überhaupt fähig ist, eine Regierung, die über eine Mehrheit im Nationalrat verfügt, zu bilden. Ist das nicht der Fall, läuft die Regierung Gefahr, bei erstbester Gelegenheit durch einen Misstrauensantrag in die Wüste geschickt zu werden. Es ist nicht auszuschließen, dass Kickl nach der Wahl zu Sondierungen eingeladen wird, aber nach ein paar Wochen mit leeren Händen in die Hofburg zurückkehrt.
Funk bringt es auf den Punkt: Der Vorwurf, dass der Bundespräsident die Verfassung bricht, wenn er den Erstgereihten nicht mit der Regierungsbildung betraut, geht ins Leere.“