Herr Riegler, was bleibt vom Besten der beiden Welten? Mehr als ein flotter Marketing-Spruch?

JOSEF RIEGLER: Für mich sind die fünf Jahre politisch ein Gewinn gewesen. Ich war 2019 sehr dankbar, dass sich Sebastian Kurz für Verhandlungen mit den Grünen entschieden hat. Er hatte ja drei Optionen, und gegen ihn hatte niemand eine. Ich war immer der Überzeugung, dass eine Symbiose aus wirtschaftsorientierter Volkspartei und ökologisch fokussierten Grünen die Chance in sich birgt, die Idee der ökosozialen Marktwirtschaft in die Praxis umzusetzen. Also das Gebot einer leistungsfähigen Wirtschaft mit gelebter sozialer Solidarität und wirtschaftlichen Anreizen für den Klimaschutz zu verschmelzen. Diese Koalition war die einzig denkbare Konstellation, in der ein Projekt wie die ökosoziale Steuerreform verwirklicht werden konnte. Es wäre mit Schwarz-Rot nicht gegangen und mit Schwarz-Blau schon überhaupt nicht. 

Überwogen mit Fortdauer nicht die Zerwürfnisse und ideologischen Gräben? 

RIEGLER: Vergessen Sie nicht, dass kaum eine Regierung zuvor unter ähnlich schwierigen Bedingungen arbeiten musste. Die Pandemie, der russische Überfall auf die Ukraine, die Energiekrise, die Inflation, die Verwerfungen nahmen kein Ende. Vor diesem Hintergrund ist es ganz gut gelungen, das Land, die Wirtschaft und die arbeitenden Menschen durch die krisenhaften Zeiten zu führen. Dass es daneben auch Reibereien gegeben hat, die sich im Laufe der Zeit verstärkt haben, ist bei einem Bündnis zweier so unterschiedlicher Parteien keine Überraschung und auch keine Anomalie. 

CHRISTIAN WABL: Ich sehe das etwas kritischer. Vor allem, wenn ich das Gebotene messe an den Grundsätzen, auch an dem, was wir uns damals als Mitbegründer erhofft hatten. Mit dir als Kanzler, Josef, und mir als Vizekanzler, wäre es weniger ruppig gewesen. Du hast ja früher als viele die Dringlichkeit eines ökologischen Bewusstseins erkannt. Das habe ich immer geschätzt. 

Welche Grundsätze wurden missachtet? 

WABL: Die Gewaltfreiheit zum Beispiel. Wir sind ja von der Friedensbewegung her gekommen. Auch die deutschen Grünen. Das haben wir überhaupt nicht verstanden, dass man nur mehr auf  Waffenlieferungen setzt. Ähnlich bei den österreichischen Grünen. Auch hier ist man von den Grundsätzen der Partei fundamental abgewichen. 

Vielleicht waren die pazifistischen Grundsätze falsch. 

WABL: Nein. Also für mich war es ein Schock, dass die ganze Weltgemeinschaft eine Waffenruhe haben will, und Österreich stimmt mit Billigung der Grünen dagegen. Da sind urgrüne Prinzipien verletzt worden. Halbwegs versöhnt war ich erst wieder, als Leonore Gewessler das Gesetz zur Renaturierung gegen die ÖVP durchgeboxt hat. Allein an diesen unterschiedlichen Auffassungen zu Ökologie und Krieg kann man ablesen, welche Last auf dieser Koalition lag. Dass wir in der Regierung nicht den Standpunkt einer neutralen, gewaltfreien Diplomatie bezogen haben, hat mich enttäuscht. Wenn man Kriege beenden will, muss man die Geschichte betrachten. Es muss irgendwann ein Vergeben geben. ÖVP und SPÖ haben funktioniert nach dem Krieg, weil sie einander verziehen haben, was in der Ersten Republik passiert ist. 

RIEGLER: Versteh mich nicht falsch, ich finde den europäischen Green Deal als ganz wichtigen Impuls, da ist Europa Leuchtturm. Dennoch kann ich dem grünen Heldenepos, was die Gangart der Umweltministerin betrifft, wenig abgewinnen. Das gilt auch für das europaweite Gesetz, das nicht nach den Gegebenheiten eines Landes fragt, sondern per Verordnung alles millimetergenau auf die Mitgliedsstaaten umlegt. Wir sind nicht Holland, wo es eine intensivierte Landwirtschaft mit all den Belastungen gibt, von der Gülle abwärts. Wir haben in Österreich seit Kaisers Zeiten eines der strengsten Forstgesetze. Wir haben eine nachhaltige Bewirtschaftung der Wälder, die bei uns zunehmen. Ohne Verordnung. 

WABL: Die Geschichte von dir als Bauernsohn und Urgestein der ÖVP und daneben meine Geschichte als Urgestein der Grünen, dazu das Christlich-Jüdische, das wir teilen, das hätte ein tragfähigeres Fundament ergeben. Da kann man auch über Grundsätzliches vertrauensvoll reden. Das ist in der Regierung nicht passiert. Da hat jeder sein Ding durchgezogen. Es war ein Versäumnis, dass wir die Bildung, ein Kernanliegen grüner Identität, dem Regierungspartner überlassen haben. Prinzipien kann man nicht abtreten. 

Sind die Grünen in der Regierungsverantwortung reifer geworden oder haben sie ihre Unschuld verloren? 

WABL: Sie haben die Unschuld verloren. Vielleicht sind sie auch reifer geworden, was die Kompetenz in den Ämtern betrifft. Aber eine gewisse Enttäuschung im Prinzipiellen bleibt bei vielen Grünen der ersten Stunde. Wir haben ja nicht umsonst die Grüne Alternative gegründet. Wir dachten ja, wir sind die Alternative zu einem Gesellschaftssystem, das die Natur zerstört und die Menschen belastet. Es ging uns immer um mehr, um das große Ganze, das neu gedacht werden muss. Das ist zu kurz gekommen. In der Schulpolitik hab ich überhaupt nichts erkennen können. Ich war ja Lehrer, ich war auch Künstler. Auch die Kulturpolitik: eine Leerstelle. 

RIEGLER: Die Grünen haben sich weit über ihren Stimmenanteil hinaus überdimensional behauptet. Da hat niemand die Unschuld verloren. Sobald man ins Leben hineingeboren wird, verliert man die Unschuld. Es ist die Dissonanz zwischen dem Ideal und dem praktischen Leben. Das ist nichts Verwerfliches. Ich kann meine Ideale nicht absolut setzen. Ich muss kompromissfähig sein. 

WABL: Ja, aber die Asymmetrie in der Regierung war groß. Die Volkspartei ist seit Kriegsende Teil des herrschenden Systems. Die vielen ministeriellen Beamten, die Verankerungen in den Apparaten, die Kammern der Wirtschaft und Landwirtschaft, alles Standbeine der ÖVP, das Ungleichgewicht der Kräfte war unglaublich. 

Würden Sie sich wünschen, dass die Grünen in der Regierungsverantwortung verbleiben? 

WABL: Ja, aber nur, wenn die Partei die vergangenen Jahre aufarbeitet und die Bilanz über das Grundsätzliche dabei nicht ausspart. 

RIEGLER: Der Christian Wabl ist halt ein Philosoph. Dass einer wie er sagt, er hätte sich etwas anderes vorgestellt, verstehe ich. Auch wenn ich den Befund nicht teile. 

WABL: Ich bin kein Phantast. Ich bin schon als Kind in der Familie politisch sozialisiert worden. Und ich kann eben Grundsätzliches nicht einfach dispensieren. Zum Beispiel die Basisdemokratie. Oder die Transparenz. Was da aus der Ära Kurz ruchbar geworden ist, wie die agiert haben, das alles ist von den Medien zutage gefördert worden und von den Chats der Handys, das war nicht die Arbeit der Grünen. Ich habe Einblicke bekommen, mitreden kann ich ja noch immer nicht. Ich leide darunter. Das war immerhin der Anfang der grünen Bewegung, dieser Impuls: „Jetzt mischen wir mit, jetzt reden wir mit“. Und wer redet jetzt mit? Die, die in der Regierung sitzen. 

Basisdemokratisch lässt sich nun einmal schwer regieren. 

RIEGLER: Vielleicht noch in der Schweiz oder in den Gemeinden, da kann ich direkt abstimmen.

WABL: Ich hätte halt bei den Forderungen nach Waffenlieferungen einfach einmal laut hineingerufen. 

Was denn? Etwa so: „Entschuldigung: Haben wir nicht einmal Gewaltfreiheit auf unsere Banner geschrieben?“ 

RIEGLER: Eine friedliche Zivilisation, diese Sehnsucht haben wir alle. Wir wollten die UNO so stark machen, dass globale Konflikte eingedämmt werden können. Passiert ist das Gegenteil. 2016 kam Trump, der hat vieles rückgängig gemacht. Dann kam der Überfall Putins auf die Ukraine. Er wollte sie einfach kassieren. So wie er Tschetschenien kassiert hat. Du appellierst an die Geschichte, Christian. Das tue ich auch. Nur gehe ich nicht her und sage, ich bin für den Frieden, und weil ich für den Frieden bin, muss ich die Ukraine leider opfern. Ich verweise auf 1938, auf Chamberlain und das Münchner Abkommen. Damals hat man auch beschwichtigt, geben wir ihm die Tschechei, dann wird er schon eine Ruhe geben. Dann hat er Polen kassiert. Die Geschichte lehrt, dass man einem Aggressor Einhalt gebieten muss. Auch für mich ist Krieg das größte Verbrechen, zu dem die Menschheit fähig ist. Aber die Kernfrage ist doch: Wie kommt man in eine Verhandlungssituation, ohne dass Putin die Bedingungen diktiert? Vermutlich erst dann, wenn erkannt wird, dass weder die eine Seite noch die andere diesen Krieg gewinnen kann. 

WABL: Ich halte es auch für empörend, dass Putin da einfach eingefallen ist. Dennoch wundert es mich, mit welcher Gewissheit die meisten Menschen wissen, was Putin will. Ich weiß überhaupt nicht, was er will. Ich hoffe, dass die Ukraine China bittet, dort zu vermitteln. 

Herr Riegler, wie haben Sie die Beschwörung des Autolandes durch den Kanzler empfunden?

RIEGLER: Als Duftmarke für bestimmte Interessensgruppen. 

Ihre Partei könnte im Herbst vor der Qual der Wahl stehen: Pink oder grün als Dritter im Bunde? 

RIEGLER: Mehr als Farben wünsche ich mir eine Abkehr von der Art, wie Politik gelebt wird. Dass bei den Akteuren die Erkenntnis reift, wie demokratieschädlich agiert wurde. Dass man aufhört, sich gegenseitig verächtlich zu machen, dass man aufhört mit dieser verbalen Hemmungslosigkeit. Ich war zehn Jahre im Parlament, acht Jahre in der Regierung. Ich hätte eine innere Hemmschwelle gehabt, am Rednerpult im Nationalrat Menschen verächtlich zu machen. Wir sägen an den Grundfesten der Demokratie. Es geht nicht mehr darum, den Wettbewerb der Ideen und der Persönlichkeiten in den Vordergrund zu stellen, sondern die Vernichtung des Mitbewerbers. Und mit dem Vernichten des Mitbewerbers vernichten wir die Demokratie. 

Wie umgehen mit den Freiheitlichen?

WABl: Ich finde, es reicht nicht, wenn die Grünen sagen: Wir sind die Alternative zu den Rechtsextremen. Das greift zu kurz. Ich würde mir wünschen, dass man sich der Anstrengung unterzieht, zu ergründen, was die Partei erfolgreich macht. Was die knapp dreißig Prozent dazu treibt, sie zu wählen. Man muss ihre Gefühlswelt verstehen lernen. 

RIEGLER: Es ist nicht vorstellbar, wie wir Österreicher unter einem „Volkskanzler“ vernünftig geführt werden könnten. Ich möchte das nicht erleben.