Sex sells war einmal. Wer auf Social Media große Reichweite generieren will, muss auf Wut setzen. Wut funktioniert so erstaunlich gut, dass bereits ein eigener Begriff existiert: Rage bait. Wut als Köder. Auf der Plattform TikTok treibt es der Influencer Ryan Gawlik auf die Spitze. Er beißt „falsch“ in einen Schokoriegel oder sagt „Expresso“ statt „Espresso“, um andere Menschen bewusst aufzuregen. Es funktioniert. Die Wut-Videos haben seine Reichweite verfünffacht.
Die Autorin Ingrid Brodnig widmet sich ihrem neuen aktuellen Buch „Wider die Verrohung“ ausführlich dieser Emotion, wie sie uns leitet und verführt, wie sich die Politik ihrer bedient, wie Social Media als Verstärker fungiert – und klassische Medien in die Wut-Falle tappen. Das Zusammenspiel von Psychologie, politischer PR und digitalen Wirkmechanismen führe, so Brodnig, zu einer „verrohten Diskussionskultur“, in der „vorrangig jene Aufmerksamkeit erhalten, die besonders laut oder derb auftreten“. Sie ortet darin eine demokratiepolitische Gefahr.
Am Anfang steht die emotionale Berührung. „Moralische Entrüstung scheint besonders gut zu funktionieren“, sagt Brodnig, die in ihrem Buch zahlreiche Studien zitiert, die sich mit diesem Phänomen beschäftigt haben. Die Evidenz dürfte mittlerweile recht stabil sein. Eine Auswertung von Social-Media-Postings von Kongressabgeordneten vor der US-Wahl 2016 hat gezeigt, dass mit jedem verwendeten moralisch-aufgeladenen Wort, die Postings um zwölf Prozentpunkte öfter weiterverbreitet wurden.
Solche Erkenntnisse lassen sich für politische Strategien und Kampagnen nutzen, dürften aber noch einen zweiten Effekt haben: Normenlernen. Unbewusst ändern wir unser Kommunikationsverhalten. „Es gibt Grund zum Verdacht, dass Menschen auf den heute existierenden digitalen Plattformen motiviert werden, moralisch entrüstet zu posten“, heißt es in dem Buch. „Wir befinden uns in einer starken Aufmerksamkeitsökonomie. Und Zuspitzung bringt Aufmerksamkeit“, sagt Brodnig zur Kleinen Zeitung.
Es sei aber falsch, nur Social Media die Schuld zu geben, betont sie. „Es gibt ein Zusammenspiel mit klassischen Medien. Im Internet entsteht Aufregung, klassische Medien sehen dies und produzieren eine Geschichte.“ Ein klickgetriebener Journalismus befördere populistische Personen und Politiker, so die Autorin.
Im Buch wird das Beispiel genannt, wie aus der wenig überraschenden Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, weniger Fleisch zu essen, binnen kurzer Zeit ein großer Internet-Aufreger wird. Die „Bild“-Zeitung hatte sich zur Schlagzeile „Nur noch eine Currywurst pro Monat für jeden!“ inspirieren lassen, woraufhin sich der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) auf Social Media über ein vermeintliches Verbot beschwerte und schrieb: „Wir leben in einer Demokratie.“ Das Posting Söders sahen 1,4 Millionen Menschen.
Aber auch die permanente Aufregung regt viele Menschen auf. Brodnig sieht eine „Sehnsucht, davon wegzugehen“. Nur wie? Klassischen Medien empfiehlt sie, journalistische Kriterien stärker zu betonen wie Relevanz, Richtigkeit und Einordnung. In ihrem Buch zeigt Brodnig zudem, dass auch positive Emotionen ein verstärktes Teilen von Beiträgen bedingen können. Sehen wir etwas, das uns herzerwärmend rührt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass wir das Posting weiterverbreiten.
Naheliegende Ratschläge
Das Buch ist auch ein Ratgeber, der sich an jene richtet, die mit den Mechanismen der heutigen Empörungsgesellschaft hadern. In Medienkompetenzschulungen, die Brodnig gibt, kommen immer wieder Menschen, die selbst erschüttert sind, was sie verbreitet haben. Und wer ist noch nie einer Falschmeldung aufgesessen? Hat wütend etwas geschrieben, das die gute Kinderstube verbietet? Oder hat sich von einer Dynamik der Aufregung mitreißen lassen?
Brodnig empfiehlt unter anderem etwas Naheliegendes: vor dem Kommentieren Zeit verstreichen zu lassen und einen Realitätscheck vorzunehmen. Stimmt die Behauptung, die mich gerade wütend macht, wirklich? Eine weitere Empfehlung ist in der oft anonymen Welt von Social Media wohl leichter geschrieben als gelebt: Empathie. Man müsse sich auch online die Menschlichkeit der anderen Person vor Augen führen, die einen gerade aufregt. Und die Internet-Expertin gibt noch einen weiteren Tipp: „Mehr Offline-Gespräche suchen.“