Zum Boykott der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft durch die EU-Kommission hat die Bundesregierung keine gemeinsame Linie. „Ich halte nichts davon, EU-Räte der Regierungschefs oder Fachminister zu boykottieren“, sagte Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP). ÖVP-Minister und -Ministerinnen würden weiter an Räten und Sitzungen teilnehmen. Sozial- und Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) wird sich dagegen dem Boykott anschließen, wie er am Dienstag in Wien ankündigte.

ÖVP boykottiert nicht

„Orbán hat einen Tabubruch begangen, über den man diskutieren muss“, so Nehammer in einem Statement gegenüber der APA. „Wir sollten dies aber nicht mit einem weiteren Tabubruch, nämlich einem Boykott beantworten“, erklärte Nehammer. Man muss Orbán mit seiner unabgestimmten Vorgangsweise konfrontieren, aber nicht die Ratspräsidentschaft boykottieren“, so der Kanzler. „Innerhalb der EU nicht mehr miteinander zu reden, ist die schlechteste aller Lösungen“, so der Bundeskanzler. „Österreichische Ministerinnen und Minister werden daher auch weiterhin an Sitzungen und Treffen der EU-Ratspräsidentschaft teilnehmen“, so Nehammer. Das Statement gelte für alle ÖVP-Ministerinnen und -Minister, präzisierte eine Sprecherin des Kanzlers.

„Als Europaministerin werde ich selbstverständlich am informellen Treffen der EuropaministerInnen in Ungarn teilnehmen“, betonte auch Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP). „Es gilt gerade jetzt, Orbán zu konfrontieren, anstatt ihn zu boykottieren. Ungarn hat als Vorsitzland eine besondere Verantwortung, aus welcher wir sie nicht entlassen werden.“ Es gelte auch, „klar den Tabubruch von Orbán anzusprechen und zu diskutieren“.

Grüne uneinig

Nicht boykottiert hat Klima- und Energieministerin Leonore Gewessler (Grüne) am heutigen Dienstag einen informellen Rat der EU-Energieminister unter ungarischem Ratsvorsitz in Budapest. Sie nahm an dem Treffen in der ungarischen Hauptstadt teil, wie aus Aufzeichnungen des EU-Rates hervorgeht.

„Ich habe für mich entschieden, zu diesen Räten (den Ministerräten unter ungarischer Präsidentschaft, Anm.) nicht zu fahren“, stellte indes Rauch klar. Dies sei seine „persönliche politische Entscheidung“, sagte er auf die Frage, ob dieses Vorgehen innerhalb der Regierung abgestimmt ist. „Man muss klare Kante zeigen“, denn es sei durch Orbán „eine Grenze überschritten worden“. Es sei „inakzeptabel“, dass Orbán (dessen Land derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat) nach Moskau reiste.

Zur Frage, ob man Ungarn das Stimmrecht im Rat der EU entziehen sollte, wie es 63 EU-Abgeordnete in einem Brief an die EU-Institutionsspitzen gefordert hatten, sagte Rauch, dies müsse in Europa entschieden werden. Es gehe um eine „konsequente Haltung Ungarn gegenüber“ – eine solche sei nötig, ließ er aber Sympathien für diese Idee durchklingen.

Brunner gibt sich bedeckt

Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP), der als möglicher Kandidat für den Posten des nächsten EU-Kommissars gilt, äußerte sich zurückhaltender. Er sagte am Dienstag in Brüssel, er habe „natürlich Verständnis für die Europäische Kommission, hier ein Zeichen zu setzen“. Bei den Vorgängen der letzten Tage und Wochen handle es sich um bilaterale Besuche, so Brunner in Hinblick auf Orbáns umstrittene Reisen.

„Auf der anderen Seite geht es um die Zukunft Europas. Und ich gehe davon aus, dass auch Ungarn die europäische Idee ganz vorne dran stellen wird“, so Brunner. Es gehe darum, die drängenden Probleme der Europäischen Union wie etwa die Wettbewerbsfähigkeit voranzubringen und auch mit dem ungarischen Vorsitz weiter zusammenzuarbeiten. Ob er selbst zu dem informellen Treffen der Finanzminister fahren wird, ließ Brunner offen. Die Bundesregierung werde eine gemeinsame Linie diskutieren. Brunner plädierte für eine rasche Nominierung des österreichischen Kommissars, „damit auch ein entsprechendes Portfolio für Österreich am Ende des Tages übrig bleibt“. Den von den Grünen vorgeschlagenen Ex-Vizepräsidenten des Europaparlaments, Othmar Karas (ÖVP), schätze er sehr, so Brunner.

Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP) betonte, es sei in Ordnung, dass Orbán einen bilateralen Besuch durchführe – es sei klar, „dass das bilateral war, nicht im Auftrag der EU“. Zur Frage, ob er an Räten teilnehmen werde, übte sich Kocher in Zurückhaltung: Dies hänge immer vom Terminplan ab. Zur Frage des Stimmrechtsentzugs verwies der Minister auf die Möglichkeiten, die auf EU-Ebene diesbezüglich bestünden.

„Kirche im Dorf lassen“

Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) hält an seiner bisherigen Position fest, wonach er sich gegen einen Boykott des ungarischen EU-Ratsvorsitzes aus Protest gegen die Soloaktionen von Ministerpräsident Viktor Orbán ausspricht, wie eine Sprecherin gegenüber der APA sagte. Schallenberg hatte vergangenen Mittwoch im Ö1-Morgenjournal die als „Friedensmissionen“ betitelten Reisen Orbáns kritisiert, darunter jene zu dem mit EU-Sanktionen belegten Kreml-Chef Wladimir Putin. „Er hat nicht im Namen der Europäischen Union gesprochen. Er hat kein Mandat, keinen Auftrag“, unterstrich Schallenberg.

Orbán habe eine Reise „auf eigene Kosten“ unternommen, „die nur Ungarn betrifft und sonst niemanden“, so Schallenberg. Orbán werde sich für seine ohne EU-Mandat erfolgten Reisen „erklären“ müssen, betonte der Außenminister. „Wir sollten klare Linien ziehen, aber auch die Kirche im Dorf lassen.“

FPÖ fordert Abwahl von der Leyens

FPÖ-Chef Herbert Kickl forderte die ÖVP auf, gegen die Wiederwahl von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu stimmen. An Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) appellierte Kickl, den Boykott zu verurteilen. „Von der Leyen ist Sinnbild und negative Symbolfigur der undemokratischen Abgehobenheit der EU-Bürokratie, eines zutiefst undemokratischen Selbstverständnisses und einer Abkoppelung der selbsternannten Eliten von den Völkern Europas“, wetterte Kickl. Die EU-Kommission sei „nichts anderes als die Angestellte der EU-Mitgliedsstaaten, aber sicher nicht ihr Chef“.

Kickl hat erst kürzlich gemeinsam mit Orbán und dem tschechischen ANO-Chef Andrej Babiš die Rechtsaußen-Fraktion „Patrioten für Europa“ ins Leben gerufen. Die Wiederwahl von der Leyens steht am Donnerstag in Straßburg auf der Tagesordnung. Die deutsche CDU-Politikerin braucht dafür eine absolute Mehrheit von mindestens 361 der 720 Abgeordneten.

Von der Leyen reagierte am Montag mit einer Boykott-Entscheidung auf die Alleingänge von Orbán in der Ukraine-Politik. Die deutsche Spitzenpolitikerin ließ ankündigen, dass an künftigen informellen Ministertreffen unter der Leitung der derzeitigen EU-Ratspräsidentschaft in Ungarn keine Kommissarinnen oder Kommissare, sondern nur ranghohe Beamte teilnehmen werden. Außerdem verzichtet die EU-Kommission auf den traditionellen Antrittsbesuch bei der ungarischen Präsidentschaft, wie ein Sprecher mitteilte.