Je näher der Wahltermin rückt, desto intensiver werden die vergangenen fünf Jahre in den Fokus der politischen Debatte geraten. Das konservativ-grüne Experiment, das anfangs von der Weltöffentlichkeit mit neugierigem Interesse beobachtet wurde, muss sich am 29. September indirekt dem Votum des Souveräns stellen. Das vernichtende Urteil der Opposition ist längst gefällt, die Regierungsparteien widersprechen dieser Bewertung vehement und postulieren das Erreichte – trotz aller Krisen. Doch was sagen die Zahlen?
Die Kleine Zeitung hat die Wahlprogramme der beiden Parteien von 2019 im Detail ausgewertet, bei jeder Forderung überprüft, ob sie Aufnahme in das Regierungsprogramm gefunden hat und sie seither umgesetzt wurde. Die quantitative Analyse zeigt, dass die ÖVP 82 Prozent, und damit einen viel höheren Anteil als die Grünen (47 Prozent), im Koalitionsvertrag verankern konnte. Angesichts der Stimmenverteilung ist das auch naheliegend. In den fünf Jahren seither hat der Juniorpartner allerdings bei der Umsetzung diesen Rückstand beinahe wettgemacht. Die ÖVP hat 45 Prozent ihrer Forderungen aus dem Wahlprogramm zumindest teilweise umgesetzt, die Grünen 37 Prozent. Anders formuliert: Was die Grünen ins Regierungsprogramm verhandelt haben, konnten sie zu 78 Prozent umsetzen (ÖVP: 55 Prozent).
Bei der Bewertung des Parteien-Vergleichs müssen drei Aspekte beachtet werden. Erstens war die Grundgesamtheit unterschiedlich. Die Grünen haben ein umfassendes Wahlprogramm mit 246 Forderungen präsentiert, die ÖVP unter Obmann Sebastian Kurz ausgewählte „100 Projekte für Österreich“. Aus dem umfangreichen Regierungsprogramm geht hervor, dass die Türkisen in Wirklichkeit viel mehr Vorhaben verfolgten, im Wahlkampf aber eine runde Zahl in die Auslage gestellt haben. Zweitens finden sich vor allem im ÖVP-Programm einige Punkte, in die gleich mehrere Ideen gepackt wurden. Bei der Auswertung stellte die Kleine Zeitung jeweils auf die zentrale Forderung ab. Das dritte Problem betrifft die unterschiedlichen Voraussetzungen. Die Grünen hatten auf Bundesebene noch keine Gelegenheit, Vorhaben umzusetzen, die ÖVP hat diese Möglichkeit durchgehend seit 1986.
Es sind nicht die einzigen Schwierigkeiten der Analyse. Wann ist eine Idee zumindest teilweise umgesetzt und wann nur mehr ein vernachlässigbares Fragment? Wie geht man mit Zielsetzungen á la „Demokratie erhalten“ um? Die Politikwissenschafterin Katrin Praprotnik von der Uni Graz hat sich in ihrer Forschung durch frühere Wahlprogramme ab 1990 durchgearbeitet. „Jeder Schritt in Richtung eines Ziels wurde als teilweise erfüllt gewertet, zum Beispiel Schulversuche“, erklärt Praprotnik. Die Kriterien der Kleinen Zeitung waren hier strenger.
Daher sind auch die Werte von Praprotniks Langzeit-Analyse nicht direkt zu vergleichen. Die Forscherin kommt im Durchschnitt auf 55 Prozent zumindest teilweise umgesetzte Wahlversprechen von 1990 bis 2013. Fördernd wirken unter anderem eine längere Amtszeit, Ressortzuständigkeit, gute Wirtschaftsdaten sowie sogenannte „Status-quo-Versprechen“: Man verspricht, dass etwas bleibt, wie es ist. Das zeigt sich auch bei Türkis-Grün, das mit Corona-, Gas- und Teuerungskrise sehr viel außerhalb des Regierungsprogramms zu erledigen hatte. „Es war eine spezielle Legislaturperiode“, so Praprotnik.
Abgesehen von der quantitativen Bilanz, ist relevant, in welchen Bereichen Umsetzungen gelungen sind. Und aus Sicht der Parteien: waren es für sie wichtige Themen? Die Grünen haben bei den Kapiteln Umwelt und Klima viel von dem erreicht, was sie vor der Wahl gefordert hatten. Das betrifft Energieeffizienz, Klimaticket, Erneuerbaren- und Radweg-Ausbau, Heizungstausch, Rücknahme von Tempo 140, Erhöhung der Nova sowie die CO₂-Steuer. Letzteres hatte die ÖVP 2019 übrigens explizit ausgeschlossen. Eine Ökologisierung des Pendlerpauschales wollten dagegen beide Parteien, es stand auch im Regierungsprogramm, kam aber trotzdem nicht. Ähnlich beim Verbot des Entsorgens von Lebensmitteln für Supermärkte, das nur als Meldepflicht beschlossen wurde.
In den Kapiteln Arbeit und Wirtschaft haben sich die Grünen kaum durchsetzen können. Auch der Wunsch nach „existenzsichernden Sozialleistungen“ schaffte es nicht ins Programm, kam aber aufgrund des Teuerungsdrucks 2022 durch die Valorisierung der Leistungen zum Teil. Im Gegenzug hatte die ÖVP das Ende der kalten Progression umsetzen können, die zwar vereinbart, aber alles andere als sicher war.
Aktuelle Ereignisse können einen großen Einfluss haben. Im Bereich Parteifinanzen und Transparenz gelang den Grünen nach den Chat-Affären sogar eine Übererfüllung des Regierungsprogramms. Die Volkspartei konnte wiederum durch den wachsenden Arbeitskräftemangel die geforderten Anreize für pensionierte Arbeitnehmer durchsetzen, die nicht im Koalitionsvertrag standen. Die Pandemie beförderte die Digitalisierung in den Schulen und der Ukraine-Krieg die deutlich höheren Ausgaben des Bundesheers. Die Position der Grünen, die 2019 eine Verkleinerung des Bundesheers gefordert hatten, änderte sich durch den Krieg.
Die ÖVP hat aus ihrem 100-Punkte-Programm eine Steuersenkung, Maßnahmen im Bereich der Pflege, außertourliche Pensionserhöhungen, Erleichterungen der Rot-Weiß-Rot-Karte, vereinfachte Unternehmensgründungen, KöSt-Senkung, höhere Forschungsausgaben und eine steuerfreie Mitarbeiterbeteiligung umgesetzt. Auch im Fall von Türkis zeigt sich: Die Ressortzuständigkeit wirkte förderlich, etwa im Bereich (Land)Wirtschaft und Steuern. Bei der Integration wurde trotz Ministerium nur wenig umgesetzt. Der Ausbau des Projekts „Zusammen Österreich“, das Eheverbot bis 18 Jahre, Jobbörsen für Flüchtlinge und härtere Sanktionen für vernachlässigende Eltern kamen nicht, obwohl all das im Regierungsprogramm steht.
Die Verteilung der Agenden hängt mit den Schwerpunkten der Parteien zusammen. Es war kein Zufall, dass bei den Grünen das Klimaschutzgesetz und bei der ÖVP Migrationsverschärfungen an erster Stelle des Wahlprogramms fanden. Beides kam nicht. Hier offenbart sich aber auch der Spielraum der Bewertung. Im Juli 2021 beschloss die EU ein Klimaschutzgesetz, das auch für Österreich verbindlich ist. 2023 kam ein EU-Asylabkommen, das zwar keine Strafen, aber „Solidaritätszahlungen“ von Ländern vorsieht, die keine Flüchtlinge aufnehmen.
Grün kann auch auf sinkende CO₂-Emissionen verweisen, Türkis auf weniger Asylanträge. Doch die Ziele erreicht? „Im Wahlkampf werden die Regierungsparteien über die eigene Bilanz sprechen müssen“, so Praprotnik. Die Grünen tun dies bereits ausführlich, die ÖVP war bisher eher defensiv. Doch der Wahlkampf hat erst begonnen.