In der heftig umstrittenen Frage, ob die Berichterstattung des „Standard“ über die grüne EU-Spitzenkandidatin Lena Schilling korrekt oder unzulässig war, liegt nun ein medienethisches – kein medienrechtliches – Urteil vor. Laut Presserat verstößt der am 7. Mai erschienene erste Bericht „Lena Schillings Kandidatur gerät in Turbulenzen“ in zwei Punkten gegen den Ehrenkodex der österreichischen Presse. In diesem und weiteren Texten wurde der 23-jährigen Klimaaktivistin vorgeworfen, schwerwiegende Gerüchte und Lügen verbreitet zu haben. Das Thema überschattete in der Folge den gesamten EU-Wahlkampf.

Es sei, so der Presserat, der von zahlreichen Leserinnen und Lesern angerufen wurde, zulässig, über fragwürdige schwerwiegende Behauptungen, die die Spitzenkandidatin einer Partei über Mitstreiter oder Journalisten verbreitet oder aufstellt, zu berichten. Auch die charakterliche Eignung einer Spitzenkandidatin für die Politik infrage zu stellen und die Öffentlichkeit über begründete Zweifel daran zu informieren, sei aus medienethischer Perspektive möglich. So gesehen seien die konkreten anonymisierten Vorwürfe gegen Schilling, vor allem die unwahren Vorwürfe häuslicher Gewalt in der Beziehung eines vormals befreundeten Ehepaars und Belästigung durch einen TV-Journalisten, ausreichend recherchiert und belegt wiedergegeben worden.

Beim Charakter braucht es Fakten

Für den Presserat verstoßt der Bericht jedoch gegen den Ehrenkodex beim Gebot einer gewissenhaften und korrekten Wiedergabe von Nachrichten. Die Zitierung zahlreicher anonymer Werturteile habe den Eindruck erweckt, Schilling habe einen mangelhaften Charakter und womöglich sogar psychische Probleme. Dies sei ein unverhältnismäßig schwer wiegender Vorwurf eines Mediums gegenüber einer Politikerin. Stattdessen wäre es geboten gewesen, „auf jene anonymisierten Zitate zu verzichten, die lediglich Werturteile zur Person Lena Schilling enthalten und in denen kein Kontext zu konkreten Ereignissen hergestellt wird“. Der Grund: Die zitierten Akteure, die allesamt aus Schillings ehemaligem Umfeld stammen, könnten damit eigene Interessen verfolgen.

Eine rote Linie, die noch für erheblichen Gesprächsstoff zwischen Medien und Politik sorgen wird, zieht der Presserat beim Umgang mit anonymen Zitaten. Diese seien zulässig, um Missstände aufzuzeigen und um einen schweren Schaden von der zitierten Person fernzuhalten. Die Grenze sei jedoch dort erreicht, „wo anonyme Zitate lediglich dazu dienen, den Charakter einer einzelnen Person in ein negatives Licht zu rücken, ohne dass dafür ein entsprechendes Tatsachensubstrat veröffentlicht wird“. Dies sei im „Standard“-Bericht der Fall gewesen. „Die zu Schilling befragten Personen hätten mit ihren Namen zu den negativen Charakterbeschreibungen stehen müssen, damit diese vom Medium veröffentlicht werden können“, so der Presserat.

Der „Standard“ fühlt sich im Kern bestätigt. Die Entscheidung stelle klar, „dass es aus medienethischer Perspektive zulässig ist und bleibt, die charakterliche Eignung von Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitikern im Rahmen medialer Berichterstattung infrage zu stellen“, so dessen Anwalt Michael Pilz. Anders als von den Grünen behauptet, sei auch keine Verletzung des Persönlichkeitsschutzes oder der Intimsphäre festgestellt worden. Die Chefredaktion betonte, dass man die Vorhaltungen nicht nur „akribisch gegengecheckt“, sondern auch einer „umfassenden rechtlichen Überprüfung unterzogen“ habe. Man sei in der Lage, „vor Gericht in jedem einzelnen Punkt den Wahrheitsbeweis anzutreten“.

Die Grünen begrüßten, „dass sich der Presserat ausführlich mit der Thematik befasst und geurteilt“ habe. Es sei wichtig, „dass sowohl Politik als auch Medien zurückschauen und Lehren aus dem Fall ziehen“ würden. Inhaltlich äußerten sie sich nicht.