Read my Lips: Nicht mit Herbert Kickl. Mit diesem Versprechen tingelt die ÖVP mit Kanzler Karl Nehammer an der Spitze in diesem Wahlkampf kreuz und quer durch die Republik und sämtliche Interviews. Das klingt eigentlich glasklar, und ist doch trüb wie ein Glas Sturm im Frühherbst. Denn zugleich betreibt die Kanzlerpartei einen erheblichen argumentativen Aufwand, um zu erklären, warum eine Zusammenarbeit mit einer FPÖ ohne Kickl trotzdem nicht ausgeschlossen ist.

Diese Pirouetten wären in der Politik, wo Pragmatismus und Opportunismus Trumpf sind, für sich genommen wenig außergewöhnlich. Das sieht man schon daran, dass auch die SPÖ in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder die Nähe zur ÖVP gesucht wie gefunden hat. Trotzdem ist die Beziehungskiste Schwarz-Blau noch einmal etwas Besonderes: ÖVP und FPÖ verbindet eine erhebliche Schnittmenge gemeinsamer Themen, von Migration über Steuern, und in trennt doch Welten.

Die ersten zarten Anbandelungsversuche gehen auf das Jahr 1956 zurück. Die Bundespräsidentschaftswahlen sowie ein gemeinsamer schwarz-blauer Kandidat stehen bevor und ÖVP-Chef und Bundeskanzler Julius Raab bietet der neu ins Leben gerufenen FPÖ ein Tauschgeschäft an: ein günstiges Wahlrecht im Gegenzug für politischen Flankenschutz im Nationalrat. Doch Raab zog dann aus Rücksicht auf die SPÖ zurück. 14 Jahre später war es dann die SPÖ unter Bruno Kreisky, die mit der FPÖ Nägel mit Köpfen machte. Bei den Nationalratswahlen 1970 erobert Kreisky erstmals Platz eins und, dank der FPÖ als Dankeschön für ein neues Wahlrecht, das Kanzleramt für die Sozialdemokratie.

Liebe war es nie

Ab da hatte die SPÖ den besseren Draht zur FPÖ, was 1983 zur ersten rot-blauen Koalition führte. Die Übernahme der FPÖ durch Jörg Haider 1986 brachte die ÖVP zurück ins Spiel: Ab nun gab es eine rechnerische Mehrheit im Nationalrat für Schwarz-Blau, doch die Tabuisierung einer Koalition mit der Haider-FPÖ sicherte der SPÖ das Kanzleramt, weil es die ÖVP als Juniorpartner in die große Koalition zwang. Dass sich Wolfgang Schüssel im Jahr 2000 als Dritter von der FPÖ zum Kanzler küren ließ, wird ihm von manchen bis heute nicht verziehen.

Der Rest ist Geschichte: Es folgte die blaue Implosion in Knittelfeld 2002, Neuwahlen, Schwarz-Blau II, 2005 Haiders Abspaltung namens BZÖ, die Übernahme der FPÖ durch Heinz-Christian Strache und ab 2006 eine neue Phase rot-schwarzer Regierungen.

Auftritt Sebastian Kurz: Der ÖVP-Hoffnungsträger färbte die altehrwürdige Partei äußerlich auf hippes Türkis und richtete sie auf eine neue Koalition mit der FPÖ aus. Das ging mit einer inhaltlichen – und im Gleichklang mit den Wünschen einer deutlichen Bevölkerungsmehrheit – Angleichung in Integration- und Migrationsfragen einher. Die Ibiza-Affäre brachte erst Strache, dann Türkis-Blau und schließlich auch Kurz zu Fall und spülte Kickl an die FPÖ-Spitze.

Der 55-jährige Kärntner erkor die ÖVP – wie schon Strache nach den Neuwahlen 2002 – zum zentralen blauen Feindbild. Dass Kurz ihn als Innenminister vom Bundespräsidenten entlassen ließ, hat dazu sicher beigetragen. Doch im Kern geht es den Freiheitlichen darum, die Lufthoheit in Sachen Migration, die ihnen Kurz eher kurz entrissen hatte, wieder zurückzugewinnen und die geballte Unzufriedenheit im Land mit der ÖVP auf ihre Mühlen zu lenken.

Politik folgt Arthmetik

Doch am Ende folgt Politik den Zwängen der Arithmetik: Rechnerische Mehrheiten schaffen neue politische Realitäten und einstige (Un-)Verträglichkeiten erscheinen plötzlich in neuem Licht. Auf jeden Fall bilden sie ein Faustpfand in der Hinterhand, mit dem sich trefflich in Koalitionsverhandlungen wuchern lässt. Hier gewinnt, wer über mehr Alternativen verfügt.

In diesem Spiel war die FPÖ seit den 1950er Jahren verlässlich der Bauer und die ÖVP zumeist in der Spielmacherrolle. Dieses Verhältnis steht nun auf der Kippe – womöglich bereits am 29. September. Es sei denn, der türkis-blaue Beziehungsstatus ändert sich wieder auf „Lasst es uns noch einmal probieren“. Sei es auch alter Vertrautheit oder banaler Abhängigkeiten.