Hat sie oder hat sie nicht Verfassungsbruch begangen? Diese Frage steht im Zentrum der Auseinandersetzung über das Vorgehen der grünen Umweltministerin Leonore Gewessler, die am Montag gegen den Willen der ÖVP im Namen der Republik für die EU-Renaturierungsrichtlinie stimmte. Die Volkspartei sagt Ja und stützt sich unter anderem auf die Rechtsmeinung des Verfassungsdienstes im Kanzleramt. Die Grünen sagen Nein und sehen ihre Auslegung durch vier von ihnen in Auftrag gegebene Rechtsgutachten bestätigt.

Wer recht hat, ist abseits der inhaltlichen und (partei-)politischen Diskussionen vor allem staatsrechtlich von erheblicher Bedeutung. Schließlich geht es um die Frage, wie die Republik eine einheitliche innerstaatliche Willensbildung sicherstellen kann, was gerade mit Blick auf EU-Abstimmungen hochrelevant ist.

Umweltministerin Leonore Gewessler
Umweltministerin Leonore Gewessler © IMAGO / Andreas Stroh

Die letztgültige Klärung dieses Streits ist Sache des Verfassungsgerichtshofs. Doch dieser kann nicht von sich aus aktiv werden. Wie rechtliche Fragen an ihn herangetragen werden, ist genau geregelt. Eine Möglichkeit ist das Instrument der Ministeranklage per Mehrheitsbeschluss im Nationalrat. Eine andere besteht in einem gleichlautenden Beschluss aller neun Landtage.

Möglich, dass die Frage ungeklärt bleibt

Weil es in der Streitfrage auch um das Verhältnis von Bund und Ländern geht, kann zudem jede Landesregierung für sich allein den Beschluss fassen, den VfGH zu fragen, ob eine 15a-Vereinbarung eingehalten wurde (138a B-VG) – oder eben nicht. Noch ist offen, ob ein Land – etwa die je von ÖVP und FPÖ regierten Bundesländer Ober- und Niederösterreich – einen solchen Schritt setzt. Doch selbst wenn, ginge es lediglich um das Verhältnis der Gebietskörperschaften, nicht um ein schuldhaftes Verhalten eines Ministers.

Theoretisch könnte auch der Bundespräsident – auf Antrag des Kanzlers – Gewessler abberufen, wie dies bei Herbert Kickl (FPÖ) als Innenminister 2019 geschah. Beobachter werten es jedoch realpolitisch als maximal unwahrscheinlich, dass Alexander Van der Bellen gegen seine ehemalige Partei so vorgeht.

So wie es derzeit aussieht, ist es gut möglich, dass die Frage, ob Gewessler nun Verfassungsbruch begangen hat oder nicht, nie rechtlich verbindlich geklärt wird.