Die wichtigste Währung in der Politik ist Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Beides ist bei Lena Schilling und der grünen Führung nachhaltig zerstört. Ein handfester Skandal überrollt die Grünen, der nicht von einem politischen oder medialen Außenfeind inszeniert wurde und den man für eine „jetzt erst recht“-Strategie verklären könnte.
Nein, der Skandal um Schilling und ihren massiven Problemen mit der Wahrheit ist hausgemacht. Es handelt sich um den Endkampf im zerstrittenen und immer nervöser werdenden linksgrünem Spektrum, ausgehend von der Polit-Kunstfigur Lena Schilling. Das gezielte Streuen falscher, strafrechtlich relevanter Gerüchte über Gewalt eines Familienvaters samt draus resultierendem Tod eines Ungeborenen gehört zum Widerlichsten, was mir jemals untergekommen ist. Dazu kommen die von Schilling frei erfundenen, Journalisten angedichteten Beziehungen und jetzt politischer Hochverrat an der eigenen Partei: Sie habe noch nie etwas so gehasst, wie die Grünen und überlege, nach der Wahl die Partei zu wechseln, chattete die „Weissnichtsogenau“ Lena. Was nichts Anderes als Mandatsklau und Wählertäuschung bedeuten würde. Was braucht es noch, damit die naive Grünen Führung akzeptiert, dass jemand mit solchen charakterlichen Defiziten niemals Spitzenkandidatin sein kann. Lena, es ist vorbei!
Mittlerweile geht es um die Existenz der Grünen. Es war Werner Kogler, der Sebastian Kurz mit moralischem Zeigefinger den Sessel vor das Kanzleramt stellte. Es waren die Grünen, die fragten: „Wen würde der Anstand wählen?“. Wer die Latte der politischen Moral so hoch legt und dann, wenn die eigene Partei strauchelt, unten durchläuft, darf sich nicht wundern, wenn sich die Wähler mit Grauen abwenden. Schilling ist längst nicht mehr das Naiverl, sondern wurde zur Nagelprobe der Glaubwürdigkeit der gesamten Partei. Dazu kommt die desaströse Krisenkommunikation. Täglich schwillt der Skandal durch Schuldzuweisungen und ein fehlendes Unrechtsbewusstsein grüner Spitzenpolitiker immer mehr an. Noch nie zuvor schlug eine Generalsekretärin - wie Frau Voglauer - in einer Pressekonferenz erst wild, dann weinerlich um sich, um sich eine Stunde später entschuldigen zu müssen, weil das Gesagte nicht nur Unsinn war, sondern vor allem nicht belegbar und somit klagbar. Die Grünen sind aktuell der Chaos-Flipper der Innenpolitik, in dem Schilling, Kogler, Maurer, Gewessler und Voglauer als Pinnballkugeln führungs- und orientierungslos übers Feld geschossen werden. Jedes Flipper-Spiel endet mit der Versenkung aller Kugeln und dem gefürchteten „Licht-Aus“. Wenn es nicht rasch zur Ablösung der gescheiterten Führung samt der auf Kriegsfuß mit der Wahrheit stehenden EU-Kandidatin kommt, heißt es spätestens im Herbst „Licht-Aus“ für die Grünen bei der Nationalratswahl.
Lena Schilling hätte alle Chancen für einen fulminanten Wahlerfolg der Grünen bei der Europawahl mitgebracht: glaubwürdiges Engagement für Klima und Umwelt, überzeugende Rhetorik, attraktives Auftreten, jugendliche Dynamik, positive Ausstrahlung, einzige Frau im Rennen der Spitzenkandidaten. Also alle Ingredienzien für einen überzeugenden Wahlkampf, wären da nicht persönliche Zerwürfnisse aus dem privaten Umfeld, die wohl mit großer Absicht wochenlang gestreut wurden: Böse Unterstellungen, achtlose Bemerkungen mit Sprengkraft, narzisstische Aufmerksamkeitsprofilierung. Konnte man abschätzen, was sich daraus medial entwickelt? In dieser Dimension wohl nicht, aber den Krisenmodus in der Schublade hätte man vorbereiten können und müssen. Aber da machten es die Grünen wie die anderen Parteien. Man vertraut auf die Integrität des Auserwählten. Anders als in den USA wurde hierzulande vermutlich noch kein Anwärter in Vorgesprächen für die Kandidatur je nach seinem Liebesleben oder sonstigen Vorgeschichten gescreent. Nicht einmal die heimliche Haschischzigarette wird bei uns hinterfragt. Was würde ein Rücktritt von Lena Schilling zwei Wochen vor der EU-Wahl bedeuten? Für die Grünen wäre es wohl ein Desaster, der aktuelle Reputationsschaden ist bis zum 9. Juni ohnehin nicht mehr zu reparieren. Sie würden vermutlich sogar die solidarischen und die „jetzt erst recht“-Schilling-Befürworter verlieren, die Enttäuschten sind sowieso schon weg. Die Folge dieser Entwicklung ist, dass wir die Europapolitikerin Schilling gar nicht wirklich kennen. Was außer dem Klimathema hat Lena Schilling noch zu bieten? Europa ist mehr als das. Was aber eigentlich viel schlimmer ist: die Proportion ist verloren gegangen. Die gigantische Schilling-Medienhysterie, ausgerechnet ausgelöst vom „Standard“, verdrängt das viel Ärgere ins Kleingedruckte: Das, was sich bei den extremen Rechten abspielt: sogar Marine Le Pen erteilt dem AFD-Kandidaten mit SS-Sympathien eine Absage, der kriegt Auftrittsverbot, wird aus der ID-Fraktion ausgeschlossen und die Freunde Harald Vilimsky und sein Parteiobmann und Wedel-Gastgeber Herbert Kickl sind dazu plötzlich ganz still. Der Blick auf diese Freundeskreise müsste eigentlich mehr mediale Aufmerksamkeit auslösen, hier geht es um echte politische Tabus, die leider keine mehr sind: EU als Wahnsinn, Öxit-Phantasien, Orban als Kommissionspräsident und die Frage, ob dort die Zukunft Europas entschieden werden soll. Geht es nicht eigentlich darum, wie Europa sich in den strategischen Fragen im globalen Wettbewerb besser aufstellt, aber auch wie die Balance zwischen dem Brüsseler Zentralismus und den nationalstaatlichen Ansprüchen neu definiert werden kann?