Die Nationalratssitzung am 5. Juli 2018, also vor fast sechs Jahren, stand ganz im Zeichen des 12-Stunden-Tages. Die Debatte war emotional, voller Pathos und zog sich über mehrere Stunden. Vor dem Parlament hatten sich ein paar Hundert Demonstranten eingefunden. An jenem Tag beschloss die türkis-blaue Regierung mehrheitlich auch kleinere Verschärfungen im Fremdenrecht, die jedoch im Getöse der Sitzung fast völlig untergingen. Dabei wirken sie bis heute nach – und mitten in die Diskussion um die Residenzpflicht hinein.
Unter Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) war eine auf den ersten Blick unscheinbare Anpassung im Asylgesetz vorgenommen worden. In Paragraf 68, der seit der Fluchtkrise 2016 die Integrationshilfe mit Deutsch- und Wertekursen auch auf Asylwerber erweiterte, wurde ein Satz etwas umformuliert. Aus einem „sind Asylwerber zu gewähren“ wurde ein „kann gewährt werden“. In den Erläuterungen zu der Gesetzesänderung heißt es: „Ein Rechtsanspruch auf Gewährung einer solchen Maßnahme soll ausgeschlossen werden.“
Von den einstigen Zielen schrittweise entfernt
In der gelebten Praxis hat sich Österreich in den Jahren danach von den einstigen Zielen einer frühen Integration von Geflüchteten, also noch während des Asylverfahrens, weitgehend verabschiedet. Die Möglichkeit für Asylwerber, in Mangelberufen eine Lehre zu beginnen, wurde wenige Monate später gestrichen, nachdem in Oberösterreich die lokale Wirtschaft und Politik gegen die Abschiebung eines afghanischen „Musterlehrlings“ mobil gemacht hatten. Das Angebot für Deutschkurse ist in den Ländern schrittweise zurückgefahren worden. Mit einer Ausnahme: Ausgerechnet das schwarz-blau regierte Oberösterreich geht andere Wege.
In einigen Regionen des Bundeslandes wurden Projekte aus der Taufe gehoben, mit denen ganz gezielt syrische Geflüchtete noch während des Asylverfahrens qualifiziert werden sollen, weil diese Fluchtgruppe in der Regel später auch Asyl erhält. Lukas Gahleitner-Gertz vom Verein Asylkoordination erwähnt den pragmatischen Zugang der oberösterreichischen Landesregierung dezidiert positiv. Ein Blick auf die Arbeitsmarktdaten stützt diese Sicht. In der ebenfalls industriell geprägten Steiermark sind nur etwa 1.500 Syrer berufstätig, in Oberösterreich mehr als doppelt so viel. Arbeitslos gemeldet sind dennoch in der Steiermark 800, aber nur 700 in Oberösterreich.
Drei Viertel aller arbeitslosen Syrer in Wien
Während SPÖ und Neos im Wiener Gemeinderat kürzlich eine Resolution für eine Residenzpflicht für Asylberechtigte beschlossen haben und den Bund auffordern, die rechtliche Möglichkeit dafür zu schaffen, hat SPÖ-Stadtrat Peter Hacker vor allem in Richtung anderer Bundesländer gefordert, dem Beispiel Oberösterreichs zu folgen und die Integrationsarbeit wieder aufzunehmen. Aus seinem Ressort kommt die Klage, dass viele Flüchtlinge, die in anderen Bundesländern das Asylverfahren hatten, nach Monaten oder gar Jahren des Aufenthalts über keine ausreichenden Deutschkenntnisse verfügen. Drei Viertel aller arbeitslosen Syrer sind in Wien gemeldet.
Das wiederum führt die ÖVP als Argument an, dass die höheren Sozialleistungen in Wien die Syrer in die Stadt ziehen würden. Wien sei deshalb gefordert, das „Sozialsystem so herzurichten, dass nicht die Menschen wegen der Sozialleistungen nach Wien kommen, sondern wegen der Arbeitsplätze“, sagte ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker. Eine Residenzpflicht lehnt die Volkspartei ab. Neos-Stadtrat Christoph Wiederkehr fand die Äußerungen Stockers „befremdlich“: Wien die alleinige Schuld zu geben, sei ein „unanständiges Taktieren“, sagte Wiederkehr. Man wolle keinesfalls beim Sozialdumping mitmachen, stellte er klar. Wichtig seien einheitliche Sozialstandards mit ausreichend Unterstützung, damit Integration gelingen könne. „Es kann nicht das Ziel sein, dass alle so weit nach unten gehen, dass die Menschen obdachlos und kriminell werden.“
Auch Wiederkehr nahm die anderen Bundesländer in die Pflicht. Für die Integration und den Arbeitsmarkt wäre es besser, wenn die Betroffenen an jenen Orten bleiben würden, an denen ihr Verfahren durchgeführt wurde, sagte Wiederkehr. Als ersten Schritt wollen die Neos im Nationalrat einen Antrag für eine Verstärkung der bundesweiten Integrationsmaßnahmen stellen – die es bis 2018 bereits gab.