Am 19. Juni 2020 platzte die Blase. In der Nacht zu jenem Freitag hatte der Zahlungsabwickler Wirecard, der digitale Stolz der deutschen Wirtschaft, ein Video publiziert, dass das Unternehmen Geschädigter „in einem Betrugsfall erheblichen Ausmaßes“ geworden sein könnte. In der Bilanz fehlten zwei Milliarden Euro.

Wenige Stunden später hob auf einem kleinen Flugplatz bei Bad Vöslau eine Cessna ab und brachte den einzigen Passagier nach Minsk: Jan Marsalek. Tags zuvor hatte der Wiener seinen Vorstandsposten bei Wirecard räumen müssen. Bis heute ist er flüchtig und europaweit zur Fahnung ausgeschrieben.

Marsalek hatte an diesem Tag zwei Helfer: den ehemaligen FPÖ-Abgeordneten Thomas Schellenbacher, der ein Jahr später in einer gänzlich anderen Causa zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Zum anderen den ehemaligen Staatsschützer Martin Weiss.

80.000 Chats wurden sichergestellt

Damals, im Sommer 2020, sickerte nur langsam, dass Marsalek nicht nur mitgeholfen hatte, ein an der Deutschen Börse notierendes Potemkinsches Dorf zu errichten, das nun spektakulär zusammenfiel, sondern dass dahinter womöglich Größeres steckt: Spionage. Im Juli 2020 hatte die „Financial Times“ als erstes Medium von angeblich guten Kontakten Marsaleks zu russischen Geheimdiensten berichtet. Vier Jahre später haben die westlichen Dienste keinen Zweifel mehr: Marsalek agiert seit Jahren als russischer Spion.

Im Vorjahr waren dem britischen Geheimdienst fünf Bulgaren ins Netz gegangen, vor allem aber: 80.000 Chats, die einer von ihnen mit Marsalek geschrieben hat. Diese Nachrichten waren der Schlüssel. Im Jänner 2021, ein halbes Jahr nach seiner Flucht, rühmte sich der Marsalek darin, dass er „meinen österreichischen Mann (,my Austrian guy‘)“ nach Dubai „evakuieren“ konnte. An diesem Tag war in Wien der kurz zuvor gemeinsam mit Schellenbacher verhaftete Ex-BVT-Mann Weiss aus der U-Haft entlassen worden. Er befindet sich seither in Dubai. Zu einem Prozess gegen Ex-Staatsschützer wegen Amtsmissbrauch, darunter Weiss, war dieser nicht erschienen.

2017 nur ein vager Verdacht

Es waren diese Chats, die Ende März auch zur Festnahme von Egisto Ott und einer Hausdurchsuchung bei ihm geführt haben. Jener Ott, der schon 2017 wegen des Verdachts russischer Spionage vom BVT suspendiert worden war. Zu jener Zeit erlebte Marsalek mit Wirecard an der Börse gerade Höhenflüge und reiste um die Welt – vielfach auch nach Russland. In diesem Jahr schied Weiss aus dem BVT aus und machte sich selbständig – als Berater für Wirecard. Die Ermittlungen führten all diese Stränge zusammen.

Video: Experte über den Fall Egisto Ott

Marsalek und Weiss sollen einander erstmals 2015 begegnet sein und bald danach eine Zusammenarbeit begonnen haben. Mit dabei: Ott, das oftmals ausführende Organ. Er soll Abfragen getätigt haben, systematisch nach Personen gefahndet haben, die Russland ausgespäht haben wollte. In seinen Wohnungen wurden nun auch zwei Spezial-Laptops des Deutschen Bundesamtes für IT-Sicherheit sichergestellt, wie sie Nachrichtendienste verwenden, weil die Daten dabei verschlüsselt sind. Was auf den Festplatten liegt, wird noch ausgewertet.

Suspendierung wurde aufgehoben

Über diese speziellen Laptops mit deutscher Verschlüsselungstechnologie unterhält sich auch Marsalek mit dem Bulgaren R. im Jahr 2022 via Chat. Aus diesen geht hervor, dass es ihnen gelungen ist, einen solchen Laptop aus Wien über London und Istanbul nach Moskau zu bringen. Sie sprechen auch über einen Einbruch beim damals in Wien lebenden Journalisten Christo Grozev des Investigativmediums „Bellingcat“. Aus Sicherheitsgründen zog dieser danach in die USA.

Ott bestreitet, in Spionage für Russland verwickelt zu sein. Seine erste Suspendierung war 2018 nach nur wenigen Monaten aufgehoben worden, da dem Bundesverwaltungsgericht die Begründung zu vage war. Das Innenministerium begnügte sich damals damit, Ott aus dem BVT heraus zu versetzen. Das Problem war damit nicht gelöst.