Die Werbe-Kampagne zur „Leitkultur“ zeitigt die erste unerwünschte Nebenwirkung für die ÖVP. Der Soziologe Kenan Güngör, der seit der Amtszeit von Sebastian Kurz als Staatssekretär für Integration immer wieder die Regierung in Migrationsfragen beraten hat, zieht sich aus dem Expertenrat zur Ausgestaltung einer Leitkultur zurück, wie er in einem Interview mit dem „Heute“-Onlineableger „Newsflix“ erklärte.
Güngör und andere Expertinnen und Experten waren in der Vorwoche von Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) zu einem Austausch ins Bundeskanzleramt geladen worden. Dabei sollte auch der Expertenrat zur Leitkultur eingerichtet werden. Bereits am Tag darauf lancierte die ÖVP aber bereits die Kampagne mit eben diesem Begriff.
„Provinziell, intelligenzbeleidigend“
Ein Sujet, das einen Maibaum zeigte, wurde vom Slogan „Tradition statt Multikulti“ geziert. Güngör kommentierte das Bild dahingehend, dass es „Tradition und Multikulti“ heißen müsse. Der Soziologe ortete eine „LeiDkulturdebatte“, die „provinziell, realitätsverleugnend und intelligenzbeleidigend wirkt“. Dabei habe die Initiatorin, Raab, tags zuvor bei dem Termin noch sehr bedacht über das Thema gesprochen. Doch die Kampagne der ÖVP mit ihren „unsäglichen“ Sujets polarisiere mehr, als sie zusammenführe, so Güngör zu „Newsflix“.
Es sei kein wirklicher Rückzug, da er von vorneherein nur zugesagt habe, an einem ersten Austauschgespräch teilzunehmen, um dann zu schauen, ob er tatsächlich mitarbeiten wolle. Unter den gegebenen Bedingungen – noch dazu in Zeiten vor einem Wahlkampf – sei es ihm allerdings nicht möglich, einen sinnvollen Beitrag zu leisten.
Der von der deutschen AfD entlehnte Spruch „Leitkultur statt Multikulti“ sei nicht nur rechtspopulistisch, sondern auch realitätsfremd – denn wenn man einen eher ländlichen Traditionalismus à la Maibaumaufstellen als „Leitkultur“ definiere, wäre vermutlich die Hälfte der Österreicher dagegen. Er selbst suche mit seinen Kindern Ostereier und feiere auch Weihnachten, so der gebürtige alevitische Kurde aus der Türkei. „Ich schätze es, wenn man Dinge verbindet und das ist so viel mehr die Lebensrealität.“
Eine Debatte über „Leitkultur“ sei in Österreich aber durchaus möglich, „wenn wir es wirklich klug und vernünftig machen“, so Güngör. Dazu müsse man den Heimatbegriff im 21. Jahrhundert neu definieren und mit der latenten Angst der autochthonen Bevölkerung vor einer Verdrängung vernünftig umgehen. „Man muss die Sorgen ernst nehmen, wirklich ernst, sehr oft versteht die Politik leider darunter eher nachplappern.“
ÖVP bedauert und zog Sujet zurück
Dass sich Jugendliche mit Migrationshintergrund derzeit nicht immer mit Österreich verbunden fühlen, selbst wenn sie hier geboren sind und zu den Aufsteigern gehören, liegt für Güngör neben verklärenden Erzählungen der Eltern über deren Heimat auch an einer „ausladenden Integrationspolitik“: „Wenn ich Zugewanderte permanent wie Aussätzige anspreche, fühlen sie sich so. Die denken sich, die wollen mich doch nicht wirklich.“
ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker bedauerte den Schritt, wie er am Rande einer Pressekonferenz erläuterte. Er schätze Güngör und dessen Expertise. „Ich hätte mich gefreut, wenn er weiter für die Ausarbeitung des Leitbilds zur Verfügung gestanden wäre.“ Man habe auch zugestanden, dass die Kampagne nicht optimal war, die Sujets seien auch teilweise geändert worden, betonte Stocker. Die ÖVP hat etwa jenes mit dem Slogan „Tradition statt Multikulti“ gelöscht.