Jener Afghane, der Ende Februar in Wien drei Frauen erstochen hat, war mehr als ein Jahr in einem Kärntner Asylheim untergebracht. Drei Wochen vor der Tat hatte er sich abgemeldet, um vorgeblich in seine Heimat zurückzukehren. Laut eigener Auskunft habe er bereits ein Ticket gehabt, berichtet sein Anwalt Philipp Springer. Dann tauchte der Mann unter – und in Wien wieder auf. Rund zwei Wochen übernachtete er bei einem afghanischen Freund, danach in einem Park. Bis er die Tat beging.
Ein Blick auf zwei Datensätze, nämlich auf die Bevölkerungsstatistik einerseits und die Asylstatistik andererseits, wirft die Frage auf, ob in Österreich nicht sehr viele Afghanen untertauchen. Seit 2017, nach der Fluchtkrise, ist deren Bevölkerungszahl nur um 4500 Personen angewachsen – auf den ersten Blick das logische Ergebnis von Addition und Subtraktion aus Geburten afghanischer Kinder (5300), Zuzug (12.000) sowie Wegzug (10.200) und Einbürgerungen (2700). Wäre da nicht die Asylstatistik des Innenministeriums: Denn im selben Zeitraum haben 54.000 Afghanen in Österreich um Schutz angesucht. Wo sind die alle hin?
Österreich wird zum Durchzugsland
Man kann sich der Antwort nur annähern. Nach Auskunft des Ministeriums hat die Hälfte dieser 54.000 das Land „noch während des Verfahrens verlassen“. Dass Österreich zu einem Durchzugsland für afghanische Migranten geworden ist, bestätigt auch Lukas Gahleitner-Gertz vom Verein Asylkoordination. Die Weiterreise erfolge meist binnen weniger Wochen. Das ist wichtig, da in den Bevölkerungsdaten der Statistik Austria nur Personen erfasst werden, die mehr als drei Monate hauptgemeldet sind. Wer also Österreich schnell wieder verlässt, scheint in den Daten der Statistikbehörde nie auf, in den Asylzahlen aber schon.
Das kann aber nur ein Teil der Erklärung sein. Wenn die Hälfte das Verfahren abwartet, beträfe das seit 2017 rund 25.000 Personen. Die müssten irgendwann auch bei der Statistik Austria aufgeschlagen sein. Eine Wohnsitzmeldung erfolgt jedenfalls während des Verfahrens in der Grundversorgung. Aber auch bei Asylberechtigten wird sie vorliegen, wenn sich diese um Arbeit oder Sozialhilfe bemühen. Doch warum steigt die afghanische Bevölkerungszahl kaum? Bei Syrern hat sich diese seit 2017 mehr als verdoppelt. Gahleitner-Gertz glaubt, dass der Anteil der Weiterreisenden in Wirklichkeit deutlich höher ist.
Dass viele Asylwerber oder gar Asylberechtigte untertauchen, wie dies der mutmaßliche Dreifachmörder von Wien getan hat, ist wenig plausibel. Sie würden Zugang zu staatlichen Leistungen verlieren. „Der Anreiz, sich aus der Grundversorgung rauszubewegen, ist gering“, sagt der Politikwissenschafter Albert Kraler, der sich an der Donau-Uni in Krems mit irregulärer Migration beschäftigt. Das gilt umso mehr, wenn ein Schutzstatus verliehen wurde und damit auch Zugang zur Mindestsicherung besteht. Dazu komme, dass ein Leben als Illegaler in Österreich schwieriger als in anderen Ländern ist. Kraler nennt bei Afghanen vor allem Frankreich und Großbritannien als Destinationen, während in Italien viele Migranten aus anderen Regionen undokumentiert arbeiten würden.
Der Großteil kann bleiben
Die Divergenz der Zahlen kann niemand so wirklich erklären. Möglich, dass afghanische Asylwerber später als „staatenlos“ in der Bevölkerungsstatistik aufscheinen, weil sie keine offiziellen Dokumente aus ihrem Herkunftsland besitzen. Oder es gibt Stichtagseffekte, da die Bevölkerungszahl stets am 1. Jänner aus dem Melderegister gezogen wird. Vermutlich, so heißt es aus der Statistik Austria, spielen mehrere Faktoren eine Rolle.
Ein Großteil der afghanischen Geflüchteten kann jedenfalls legal in Österreich bleiben. Im mehrjährigen Durchschnitt wurde nur 13 Prozent Schutz verwehrt, seit Machtübernahme der Taliban 2021 sind es überhaupt nur mehr drei Prozent. Aufgrund der hohen Antragszahlen betraf das seit 2017 dennoch 10.898 Personen, von denen nur wenige (700) abgeschoben wurden. Rund 1000 kehrten freiwillig zurück. Wo sind die restlichen 9000 Abgelehnten?
Wer ausreisepflichtig ist, fliegt zwar aus der Grundversorgung, doch ohne Abschiebemöglichkeit werden die abgelehnten Asylwerber in Wien aus pragmatischen Überlegungen oft wieder aufgenommen – eben um Illegalität und Wohnungslosigkeit zu vermeiden. Viele dürften es nicht sein. Im Februar waren in ganz Österreich 5433 Afghanen in Grundversorgung und 4491 Verfahren offen.
Nur in Wien ist die Community seit 2017 gewachsen (plus 7760), in der Steiermark schrumpfte sie von 6000 auf 5000 Personen. Dass abgelehnte Geflüchtete fast immer in andere EU-Staaten weiterziehen, ist anzunehmen. Wissen will es Österreich offenbar nicht.