Es ist ein bekanntes winterliches Phänomen. Das Thermometer ragt zwar deutlich in den Plusbereich, doch eine steife Brise lässt trotzdem die Knochen gefrieren. Im Wetterbericht ist dann von echter und gefühlter Temperatur die Rede. So ähnlich dürfte es sich auch bei der Frage der Polarisierung der Gesellschaft verhalten. In der weit verbreitenden Wahrnehmung nimmt sie seit einigen Jahren rasant zu, doch die sozialwissenschaftliche Vermessung findet sie nicht – bisher zumindest.
Im Vorjahr ist das Buch „Triggerpunkte“ der Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser erschienen, das auf einer umfassenden Studie basiert. Hintergrund waren der Brexit und die Wahl Donald Trumps, die eine starke Polarisierung offenbarten. Für Deutschland erhärtete sich dieser Befund nicht, wie Mau und Westheuser bei einem Vortrag im Kreisky Forum am Montagabend in Wien berichteten. Es ist demnach eine gefühlte Polarisierung, die viele wahrnehmen, wobei die steife Brise in diesem Fall die Social-Media-Aufregung ist, die uns im Sekundentakt entgegenbläst. Aber auch Politik und andere „Polarisierungsunternehmer“, wie Mau sie nennt, befeuern sie.
Von Dromedaren und Kamelen
Befragt wurden in der Studie 2.500 Personen zu konfliktträchtigen Themen wie Migration, Klimawandel, Sozialstaat und Diversität. Die Ergebnisse inspirierten Mau zum Sprachbild einer „Dromedar-Gesellschaft“, also mit einem Höcker oder eben einer großen Mitte, während sich in den USA eine sehr gespaltene „Kamel-Gesellschaft“ entfalten würde – mit zwei Höckern und einem unüberwindbaren Graben dazwischen.
Mitte-Positionen sind unter anderem: Keine komplette Ablehnung von Migration, aber sie muss geregelt sein; grundsätzliche Anerkennung des Sozialstaates, ebenso des Klimawandels; Akzeptanz von homosexuellen Partnerschaften bis hin zur Verehelichung. Extrempositionen zu diesen Themen seien selten und bilden die Ränder, so Steffen Mau.
„Die Politik inszeniert aber Konflikte“, sagte der Soziologe am Montag. „Die Polarisierung ist dann eine Folge davon.“ Sie sickert gewissermaßen von oben die Diskursleiter hinunter, nicht von unten, also aus der Gesellschaft selbst, hinauf in die Politik. Als Ursache identifiziert Mau die fragil gewordene Partei-Wähler-Beziehung. Die Parteiloyalität ist nur mehr gering ausgeprägt, also versuchen Politikerinnen und Politiker mit dem Setzen von emotional aufgeladenen „Triggerpunkten“ – daher auch der Buchtitel – ihre Stimmen zu maximieren.
Als Beispiel nannten Mau und Westheuser das Thema Gleichberechtigung, deren komplette Ablehnung eine absolute Randposition darstellt. Nicht so beim Gendern, das viele Menschen – aus unterschiedlichen Gründen – emotionalisiert, weshalb es von Parteien auch thematisiert wird. In der politischen Debatte seien zwar auch früher solche Triggerpunkte mit hohem Emotionalisierungsgrad gesetzt worden, aber erst die geringe Parteienbindung der Wählerschaft machte sie zu einem großen Hebel in Richtung Wahlerfolg.
Auch Sora fand wenige Belege für Polarisierung
Ob diese Befunde auch für Österreich zutreffen, wollten und konnten die Soziologen nicht sagen. Befragungen des Sora-Instituts aus dem Vorjahr, das auf die Studie aus Deutschland reagierte, gaben aber sehr wohl Hinweise auf eine Vergleichbarkeit. Bei Verteilungsfragen und Diversität fanden sich konstante Werte oder gar eine abnehmende Konfliktträchtigkeit. Am ehesten spaltet noch das Thema Klimawandel, wobei das kein Generationenkonflikt sein dürfte, wie oftmals angenommen. In Deutschland wie in Österreich zeigten die Befragungen, dass mit dem Alter die Sorge steigt, während sich die Jungen - trotz Fridays for Future – in einem signifikant geringeren Ausmaß vor dem Klimawandel ängstigen.
Ein Aspekt, den Mau und seine Kollegen herausgearbeitet haben, ist auch für die beginnende Wahlauseinandersetzung in Österreich relevant. Zwar gibt es eine breite Akzeptanz für Umverteilung durch den Sozialstaat – Mau nannte die Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe und Gesundheitsversorgung – in höheren Bildungs- und Einkommensschichten sei die Unterstützung dafür aber stärker ausgeprägt als in unteren, wo die Soziologen auf eine größere Zustimmung zum Leistungsgedanken und zur „meritokratische Norm“, so Mau, stießen. Als Beispiel nannte er die Erhöhung von Hartz IV in Deutschland, das von Schlechtverdienern eher abgelehnt worden war. Die SPÖ setzt mit Andreas Babler bisher sehr akzentuiert auf das Thema Umverteilung.