Wir können wochenlang über das richtige Gendern in Broschüren und Publikationen diskutieren, aber verlieren dabei den Blick auf die echten Probleme der Menschen.“ Das sagte Bundeskanzler Karl Nehammer im Vorjahr in seiner programmatischen Rede „Österreich 2030“. Für Freitag wird der ÖVP-Obmann erneut eine solche Rede halten, diesmal in Wels. Vorab sickerten einige Forderungen durch – darunter zum Gendern.
Laut Informationen von „Heute“ will Nehammer einheitliche Vorgaben zur Verwendung geschlechtergerechter Sprache in der Verwaltung und in der Lehre einfordern. Das Ausschreiben beider grammatikalischen Geschlechter sei sinnvoll, nicht aber die Verwendung von Sonderzeichen. Der Koalitionspartner reagierte hämisch. Der Kanzler solle sich nicht vor Großbuchstaben, Doppelpunkten und Sternchen fürchten, schrieb Grünen-Abgeordnete Meri Disoski.
Keine Einheitlichkeit
Eine klare Regelung gibt es nicht. Geschlechtergerechte Sprache wird zwar verlangt, dies sei für eine „moderne und offene Verwaltung von grundlegender Bedeutung“, heißt es dazu in einem Leitfaden des Bundeskanzleramts, in dem auch ein „einheitliches Erscheinungsbild staatlicher Kommunikation“ eingemahnt wird. Die Ministerien handhaben das Gendern aber unterschiedlich. Das Kanzleramt empfiehlt die Paarform („Leserinnen und Leser“) und geschlechtsneutrale Formulierungen („Lehrkräfte“), das Wirtschaftsministerium auch den Doppelpunkt („Bürger:innen“).
Im Bildungsministerium wird wie im Leitfaden des Kanzleramts auf den Rechtschreibrat verwiesen, der Sonderzeichen nicht empfiehlt. Eine normative Befugnis hat dieses Gremium aber nicht.
Die Verfassung schützt die freie Lehre
Auch an den Unis gibt es keine einheitliche Regelung. So finden sich bei der Uni Graz Leitfäden von mehreren Instituten, die Uni Wien empfiehlt die Verwendung des Gendersterns. Binäre Formulierungen (Binnen-I, Paarform) seien nicht ausreichend, heißt es, da Menschen „mit alternativer Geschlechtsidentität“ vor einer fremdbestimmten Geschlechtszuweisung zu schützen seien. Man verweist dazu auf ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs.
Videoumfrage: Was die Steirerinnen und Steirer vom Gendern halten
Die Universitäten sehen sich als Vorreiter in Belangen der Menschenrechte, wie es von der Universitätenkonferenz (Uniko) heißt. Das Ziel ist Antidiskriminierung und Gleichstellung, und das müsse sich auch in der Sprache widerspiegeln. Das Wie wird stetig verhandelt, ändert sich laufend. Die Unis verstehen sich dahingehend als Labor. Eine Vorgabe durch den Bund, auch was Prüfungen betrifft, sei nicht möglich, so die Uniko. Laut Bundesverfassung sei die Lehre frei.
Kommentar
Dass die „echten Probleme der Menschen“, wie Nehammer im Vorjahr sagte, andere sind, geht aus Umfragen hervor, die etwa das Gallup-Institut gelegentlich durchführt. Thematisch ganz oben rangieren die Inflation, leistbares Wohnen sowie Gesundheit und Pflege. Die Politikwissenschafterin Katrin Praprotnik von der Universität Graz sagt: „Die eigene Geldbörse ist wahlentscheidend.“
Warum also diese Forderung? „Die ÖVP möchte signalisieren, dass sie eine konservative Partei ist“, sagt der Meinungsforscher Peter Hajek. „Es ist aber Dilettantismus pur, wenn man glaubt, mit diesen Themen zu reüssieren.“ Man versuche krampfhaft, den Freiheitlichen Paroli zu bieten, lege ihnen aber die Rutsche.