„Meine Redezeit ist vorbei“, sagt der graumelierte ältere Herr vor dem Salzburger-Festspiel-Publikum. Gerade einen Satz hatte er bis dahin formuliert, ein paar freundliche Worte über die Schönheit der Musik – und aus? Hohe Anlässe durch paradoxe Intervention und feine Ironie zu brechen, ist die Spezialität Alexander van der Bellens. Die Lacher sind ihm sicher, und er weiß das.
Kaum ein halbes Jahr vorher war der Tiroler mit familiären Wurzeln in Estland zum zweiten Mal angelobt worden. Es war knapp geworden, obwohl weder ÖVP noch SPÖ einen Gegenkandidaten aufgestellt hatten und obwohl der FPÖ-Kandidat, Walter Rosenkranz, an das Ergebnis Norbert Hofers im ersten Wahlkampf nicht herangekommen war. Mehrere brüske Regierungswechsel, eine provisorische Regierung und eine Pandemie hatten Van der Bellens erste Amtszeit geprägt. Der Versuch, in der aufgeheizten Stimmung die Balance zu halten, kostete Tribut.
„Es kann nicht jeder jeden leiden“
Der frisch renovierte Sitzungssaal des Reichsrats ist bis zum letzten Platz gefüllt und festlich gestimmt. Der Wiedergewählte spricht von Leopold Figls Zukunftshoffnungen und von den Ängsten junger Menschen, von Gemeinsamkeit und der Notwendigkeit von Kompromissen. Zeit für eine Intervention. „Schauen Sie zu Ihrem Sitznachbarn“, verlangte er von den verblüfften Berufspolitikern beiderlei Geschlechts im Saal. „Es kann nicht jeder jeden leiden.“ Schallendes Gelächter bestätigt seine Behauptung und bricht zugleich die Spannung. So etwas würde er gerne mit dem ganzen Land machen. Humor als Heilmittel gegen Verbitterung und Feindseligkeit.
In Salzburg hat sich der Festredner im Sommer sogar selbst einbezogen in den Versuch, Gräben durch Witz zu überwinden. Unvermittelt brach Van der Bellen seine Ausführungen zu den Gefahren der Blasenbildung in sozialen Medien ab, nestelte sein Handy hervor und begann, darauf herumzutippen. „Ich abonniere den Instagram-Account von Norbert Hofer“, erklärte er zerstreut die Unterbrechung. „Ist schon erledigt, sehr schmerzfrei erledigt.“ Schallendes Gelächter in der Felsenreitschule. „Sie können ja Greta Thunberg abonnieren.“
„Ändern Sie die Spielregeln“, rief er seinem Publikum im Blick auf die Algorithmen der sozialen Medien zu. „Bringen Sie Ihre Blase zum Platzen. Reden Sie mit Leuten, die Sie nicht kennen. Hören Sie einander zu – eine fast ausgestorbene Tätigkeit.“ Das Ziel, zu dem auch die Medien einen unverzichtbaren Beitrag leisten können müssen: „Ein gemeinsames Bild von Wirklichkeit.“
Die Gräben zur FPÖ sind geblieben
Im Umgang mit der FPÖ sind ihm neue Spielregeln bisher nicht gelungen und dazu hat auch er beigetragen. Nichts zwinge ihn, die stimmenstärkste Partei mit der Regierungsbildung zu beauftragen, sagte er. Das stimmt zwar, vertiefte aber den Graben zu den Gemeinten, den der überlange, harte Wahlkampf gegen Norbert Hofer aufgerissen und die Ablösung Herbert Kickls als Innenminister auf Antrag des Bundeskanzlers vertieft hatte. Der von ihm oft beschworene Gesprächsfaden – mit der FPÖ ist er so gut wie zerrissen. Auch wenn beide die Freiheit an ihre Fahnen heften. Zu vieldeutig ist das Wort.
„Die Kunst der Freiheit“ heißt Van der Bellens Buch, mit dem er sich 2015 einem breiteren Publikum vorstellte. Noch zögerte der damals 71-jährige Grüne, ob er wirklich seine Rentner-Freiheit den Mühen staatstragender Amtsgeschäfte opfern wollte, sollte es ihm denn gelingen, zum ersten Mal das „innerösterreichische Gleichgewicht des Schreckens“ zwischen Rot und Schwarz zu durchbrechen. Aber wozu sonst hätte er ein Jahr vor der Präsidentenwahl ein solches Buch geschrieben?
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„Mein Freiheitsbegriff ist angelsächsisch geprägt“, liest man da. „Zentral ist das Recht und die Freiheit des Individuums, seine Persönlichkeit zu entfalten und sein Leben selbstbestimmt, frei von gesellschaftlichen Zwängen zu führen.“ In aller Freiheit hat der Sohn von Flüchtlingen aus der Sowjetunion, dessen Eltern es ins Kaunertal verschlagen hatte, einst gegen die Tiroler Verhältnisse rebelliert, hatte Parteiloyalitäten und Ansichten gewechselt, je nach Stand der Erfahrungen und Erkenntnisse. „Ich kann darin nichts prinzipiell Ehrenrühriges erkennen“, schreibt er. „Die Herkunft bindet, aber sie fixiert nicht.“
Lange bevor er als Präsident die von der Regierung verhängten, pandemiebedingten Einschränkungen mittrug, hatte er die Grenzen der Freiheit schon formuliert, als würde er sich gegen Vorwürfe verteidigen, die ihm Maßnahmengegner an den Kopf werfen würden. „Natürlich müssen Freiheitsgrade geopfert werden, wenn das Bedürfnis der Gesellschaft und Einzelner nach Sicherheit gestillt werden soll. Das hat aber noch längst nichts mit einer freiheitsfeindlichen, eifernden Grundhaltung zu tun.“ Das war 2015.
Manches, was er damals formulierte, klingt aus heutiger Sicht fremd. Lange vor dem offenen Ukraine-Krieg äußerte Van der Bellen noch Verständnis für Russland und kritisiert die einhellige mediale Verurteilung der Okkupation: „Kaum wo wird da die Position vertreten, dass die Annexion der Krim im März 2014 auch eine Vorgeschichte hatte, nämlich verantwortungsloses Gerede von einem Nato-Beitritt der Ukraine, womit Russland vom Schwarzen Meer praktisch abgeschnitten gewesen wäre. Glaubte wirklich jemand, Wladimir Putin würde dem tatenlos zusehen?“ Heute, nach zwei Jahren Krieg, spricht nur noch die FPÖ so. Die Erfahrung hat Van der Bellen umgestimmt, wieder einmal.
Eine Kunst als stärkstes – und fast einziges – Instrument
Vieles, was er damals schrieb, findet sich in seinen Reden wieder – die Sorge um das Klima, um die Grundlagen der liberalen Demokratie, um ein offenes Gesprächsklima im Netz, in der Politik und darüber hinaus. „Ich würde mich selbst als höflich bezeichnen“, schrieb der Wirtschaftsprofessor, der später den Grünen mit gemischtem Erfolg Verständnis für Ökonomie nahezubringen versuchte. „Beim viel zitierten guten Ton geht es im Kern um Respekt vor dem Anderen.“
Bisher hat ihn die „Tugend der ironischen Gelassenheit“, die er sich im Buch selbst zuschreibt, nur selten verlassen. Aber die verfestigten Positionen im Land machen es schwieriger, durch sanftes Rempeln Bewegung in die starren Fronten zu bringen. Und doch bleibt die Kunst des Lockens, des Ermutigens, des Warnens mit Witz und Charme sein stärkstes Instrument. Fast sein einziges. Er wird es brauchen in diesem Jahr.
Thomas Götz