Als Kanzler Sebastian Kurz und sein Vize Werner Kogler im Jänner 2020 vor die Öffentlichkeit traten, um den Durchbruch in den Koalitionsverhandlungen zu verkünden, hielten sie stolz das 232 Seiten dicke Regierungsprogramm in die Kamera. Was streng unter Verschluss blieb, waren die Geheimabsprachen. Erst 2022 wurde die Existenz eines sogenannten „Sideletters“ publik. Das Papier regelt die Postenbestellungen, streng nach Proporz aufgeteilt, wobei das Kräfteverhältnis in etwa dem Wahlergebnis entspricht, der Kleinen Zeitung liegt der Deal vor.
Kürzlich legten der jetzige Kanzler, Karl Nehammer, und Vizekanzler Kogler wieder eine Leistungsbilanz vor. Was nicht angesprochen wurde: Was wurde aus dem Geheimpapier? Um eines deutlich zu machen: Im Unterschied zu früher verfügen nahezu alle Kandidaten über die nötige Qualifikation. Freilich: Ohne Parteinähe hätte man vielleicht anderen den Vortritt gelassen. Was auffällt: Während die ÖVP aus einem, so scheint es, unbegrenzten Personalreservoir schöpft, greifen die Grünen oft auf Persönlichkeiten mit SPÖ-Nähe zurück (FMA, Nationalbank).
Dieser Tage ließ Verfassungsministerin Karoline Edtstadler durchklingen, dass sie im Spätsommer gern als EU-Kommissarin nach Brüssel übersiedeln würde. Ob sie den Zuschlag bekommt, ist unklar, laut „Sideletter“ besitzt die ÖVP das Nominierungsrecht. In ÖVP-Zirkeln wird beteuert, es sei offen, ob sich die Grünen, wenn die Koalition im Sommer in den letzten Zügen liegt, noch an die Deals halten. Wahrscheinlich schon, denn die Grünen dürfen im Sommer gleich zwei EU-Topjobs nominieren: Im Oktober läuft die Amtszeit von Andreas Kumin als Richter am EU-Gerichtshof aus. Nicht unvorstellbar, dass Alma Zadić auf den Spuren von Ex-SPÖ-Justizministerin Maria Berger wandelt und sich den prestigeträchtigen Posten angelegt. Im Sommer muss Gabriele Kucsko-Stadlmayer nach neun Jahren am Straßburger Menschenrechtsgerichts das Feld räumen. Auch hier haben die Grünen den Zuschlag. Erst der nächsten Koalition bleibt es vorbehalten, die Personalia am EU-Rechnungshof und am EU-Gericht zu regeln. Helga Berger bleibt bis 2026 am Rechnungshof, Elisabeth Tichy-Fisslberger bis 2018 am Gericht im Amt.
Die jüngsten Bestellungen in der Nationalbank folgten ebenso den Geheimabsprachen. An der Spitze des Generalrats machte Harald Mahrer am ÖVP-Ticket das Rennen, die Grünen besaßen beim Vize das Vorschlagsrecht und entschieden sich für die Gewerkschafterin Ingrid Reischl. Auch die anderen Neuernennungen folgten dem Proporz: Stephan Koren, Stefan Pichler, Christian Helmenstein am türkisen, Silvia Angelo (AK) und Leonhard Dobusch (Momentum-Institut) am grünen Ticket.
Getreu dem „Sideletter“ erfolgten auch die Bestellungen im ORF (die Grünen entsandten Lothar Lockl und Andrea Danmayr in den Stiftungsrat) am Verfassungsgerichtshof (Grüne mit Verena Madner), bei der Finanzmarktaufsicht, am Bundesverfassungsgericht, bei den ÖBB, in der Asfinag. Hoffnungslos verhakt haben sich ÖVP und Grüne, wie wiederholt berichtet, beim Verwaltungsgerichtshof und beim Bundesverwaltungsgericht. Wetten, da wird auch noch eine Lösung gefunden?