Das erste Urteil war schon vor der Aufarbeitung gesprochen. Am 29. Jänner dieses Jahres wählte Niederösterreich, die Kanzler- und Landeshauptfrauenpartei ÖVP verlor fast zehn Prozentpunkte. Der Politikwissenschaftler Laurenz Ennser-Jedenastik verknüpfte Impf- mit Wahldaten und fand eine erstaunliche Korrelation: Je niedriger die Corona-Impfrate, desto höher die ÖVP-Verluste. Das Thema sei vor allem im ländlichen Raum „tödlich gewesen“, bekannte auch der damalige Klubchef Klaus Schneeberger. Zwei Wochen später kündigte Karl Nehammer eine große wissenschaftliche Aufarbeitung an.
Schon damals sprach der Bundeskanzler von einer „schonungslosen Analyse“. Die ist es auch geworden. In den nun vorliegenden sozialwissenschaftlichen „Reflexionen“, die sich auf rund 150 Seiten finden, ging es nicht um die Beurteilung und Wirksamkeit einzelner Maßnahmen, vielmehr versuchte ein Team der Akademie der Wissenschaften, gesellschaftliche Dynamiken zu ergründen und Ableitungen für künftige Krisen zu treffen. Empfehlungen gibt es nicht nur für die Politik, sondern auch für Wissenschaft, Medien und die Bevölkerung selbst. Unter anderem wurden diese auch bei moderierten Dialogforen von Bürgerinnen und Bürgern mit sehr unterschiedlichen Einstellungen zur Pandemie erarbeitet.
Im Rahmen der Präsentation der Analyse, die kurzfristig für Donnerstagmittag angesetzt worden war, sprach Nehammer zwar aktiv Fehler an, wurde aber nur in einem Fall wirklich konkret. Die Politik hätte ihre Worte mit mehr Bedacht wählen müssen, als sie schwerwiegende Eingriffe kommunizierte. Mehrfach verwies der Kanzler auf das „hehre Motiv“, Menschenleben retten zu wollen. „Das Ziel war immer, das Virus zu bekämpfen.“ Dort, wo gearbeitet werde, passieren auch Fehler, sagte Nehammer. Die nun vorliegende Studie „rechtfertigt diese Fehler nicht, aber erklärt sie“.
Der Soziologe Alexander Bogner beschrieb zwei unterschiedliche Phasen der Krise: die akute, in der das Bedrohungsgefühl ausgeprägt sei, Konflikte zurückgestellt werden und das Gemeinsame gesucht wird. Dies sei nur in der ersten Phase der Fall gewesen. Chronifiziert sich eine Krise, sei anderes politisches Handeln gefragt. „Konsens lässt sich nicht konservieren“, so Projektleiter Bogner. Auf pluralistische Sichtweisen sei dann zu achten, ein zu enger Blick müsse schnell geweitet werden. „Sonst wird der Handlungsspielraum eingeschränkt.“
Aus der Studie geht auch hervor, dass aus der anfangs thematischen Polarisierung, die Teil demokratischer Aushandlungsprozesse ist, mit der Impfpflicht eine „gruppenbezogene Polarisierung“ einsetzte. Eine solche geht mit anderen Gruppen einher, mit wechselseitiger Abneigung. Aushandlungen können dann nicht mehr stattfinden.
Moralisierung der Impfung
Wenig überraschend negativ fällt das Kapitel zur Impfpflicht aus. Bei einer solchen Frage müsse im Vorfeld eine Debatte erfolgen, eine Entscheidung müsse begründet und dürfe nicht nur verkündet werden. „Der Verweis auf eine angebliche Alternativlosigkeit wirkt langfristig vertrauensschädigend“, heißt es in der Studie. Anders formuliert: Bei diesem Thema hat die Politik offenkundig alles falsch gemacht. Auch die „Moralisierung der Impfung“ habe zur Polarisierung beigetragen. Bogner sieht darin generell ein Problem in der Krisenkommunikation.
Eine solche Krisenkommunikation zu etablieren, ist eine von mehreren Lehren, die Nehammer am Donnerstag nannte. Generell soll die Krisenresilienz erhöht werden, unter anderem durch das Bundeskrisensicherheitsgesetz. Die Stelle eines Krisensicherheitsberaters wird derzeit ausgeschrieben. Maßnahmen gegen Wissenschaftsskepsis sollen erarbeitet werden, Daten zur Planung künftig besser genützt sowie die Gesundheits- und Sozialberufe gestärkt werden. Letzteres stand unter anderem am Donnerstag auf der Tagesordnung des Bundesrates – weshalb auch Gesundheitsminister Johannes Rauch von den Grünen bei der Präsentation fehlte. Die Länderkammer winkte seine Gesundheitsreform durch.