Kaum anderswo in Europa konnte die jüdische Bevölkerung in den letzten Jahren ein so unbeschwertes Leben, einen Alltag frei von Angst führen wie in Wien. Während nicht nur in Paris, Brüssel, London, sondern seit Längerem auch schon in Berlin und München die Kultusgemeinden ihren Mitglieder dringend nahegelegt haben, in der Öffentlichkeit auf das Tragen der Kippa zu verzichten, prägen in einigen Straßenzügen der alten Leopoldstadt nach wie vor orthodoxe, strenggläubige Juden das Straßenbild. In den Morgenstunden kurven die Kinder mit dem Scooter in die Schule, nicht nur am Schabbat eilen Männer in schwarzen Hüten in die Synagoge. An Festtagen werden die Pelzhüte ausgeführt, in so manchen Wiener Innenhöfen wird das Laubhüttenfest tanzend und singend gefeiert. Und am jüdischen Neujahrstag versammelt man sich zum Taschlich am Donaukanal, um sich der letzten Krümel, die in Taschen vorzufinden sind, zu entledigen.
in Österreich leben 12.000 Juden
Die jüdische Community ist genauso heterogen, divers wie jene in Tel Aviv, London oder New York. Der regelmäßige Besuch der Synagoge gehört zum Minderheitsprogramm. Nach internen Schätzungen leben ungefähr 12.000 Juden in Österreich, mehr als 95 Prozent davon in Wien. 8000 haben sich der Kultusgemeinde geschlossen. Ähnlich wie in Israel sind in den letzten Jahrzehnten viele bucharische Juden aus den Nachfolgestaaten der alten Sowjetunion eingewandert. Österreich dient nach wie vor als - geheimer - Brückenkopf für iranische Juden, die in die USA oder nach Israel auswandern wollen.
20 Synagogen, Schulen, zwei Sportklubs und ein Fitnesscenter
Dass sich in Wien ein jüdisches Leben mit mehr als 20 Synagogen und Gebetshäusern, Schulen für mehr als 1000 Schüler, Altersheimen, Sportvereinen (Maccabi, Hakoah), jüdischen Bäckern, Fleischern, Fitnesscentern wieder so entfalten konnte, liegt auch an den enormen Sicherheitsvorkehrungen. Vom 20 Millionen großen Gemeindebudget fließen fast fünf Millionen in Schutzmaßnahmen. Tagsüber, wenn Synagogen oder Schulen geöffnet sind, zeigt die Polizei sichtbare Präsenz. „Wir arbeiten ausgezeichnet mit den Behörden zusammen“, lobt Benjamin Nägele, Generalsekretär der Kultusgemeinde, die Politik. „Unsere Priorität ist, dass jüdisches Leben geschützt wird. Wir schützen keine leeren Gebäude.“ Wohl der wichtigste Indikator für das Sicherheitsempfinden: Im Unterschied zu Frankreich und anderen europäischen Ländern sind in den letzten Jahren kaum Juden aus Wien nach Israel oder die USA ausgewandert.
70 Prozent der Schüler blieben am „Tag des Zorns“ zu Hause
Der 7. Oktober markiert auch in Wien eine Zäsur. „Fast jeder in der Gemeinde hat einen persönlichen Bezug zu den barbarischen Vorfällen, kennt jemanden in Israel, der davon unmittelbar betroffen ist.“, so Nägele. Seit dem Terrorüberfall haben sich die antisemitischen Vorfälle in Österreich verdreifacht, das Herunterreißen der Fahne vor der Hauptsynagoge in Wien war nur die Spitze des Eisbergs. Vor zehn Tagen hatte die Hamas weltweit zum „Tag des Zorns“ ausgerufen. „70 Prozent der Schülerinnen und Schüler blieben aus der Sorge der Eltern zu Hause.“ Wegen Mobbing-Vorfällen und mehrere Übergriffe an Schulen habe man bereits die Bildungsdirektion in Wien angerufen. Seit Jahren steht die Kultusgemeinde mit ihren Mitgliedern im SMS-Kontakt. Sobald sich die Sicherheitslage verändert, wird die Community informiert. Derzeit wird Eltern dringend abgeraten, Kinder allein in die Schule zu schicken. Eingangstüren sollten umgehend geschlossen werden. Vor jüdischen Einrichtungen sollte man nicht verweilen. So weit wie in Berlin, wo bereits Wohnhäuser mit dem Davidsstern beschmiert worden sind, musste man glücklichweise nicht gehen: In Deutschland wurden die Gemeindemitglieder aufgefordert, sich auf der Straße nicht auf Hebräisch zu unterhalten bzw. nicht hebräische Zeitungen oder Bücher in der U-Bahn oder Straßenbahn zu lesen.
Sorgen vor einer zunehmend aufgeheizten Stimmung
Statt sich über die Abwesenheit der Polizei angesichts der heruntergerissenen Fahne zu empören, treibt die Israelitische Kultusgemeinde in Wien eher die Sorge um die „Hamas-Versteher“, die in Wien auf die Straße gehen, um. „Wir wünschen uns, dass die Behörden kompromisslos bei Parolen durchgreifen, die die Vernichtung Israels propagieren.“ Nicht nur das: „Die Sorge ist groß, dass die Stimmung aggressiver wird. Jeder antisemitische Vorfall sorgt dafür, dass sich die Gemeindemitglieder überlegen, ob sie die Kinder in die Schule schicken.“
„Wir wollen den Alltag fortsetzen“
Auch jetzt am Schabbat war die Polizeipräsenz vor jüdischen Einrichtungen nicht zu übersehen, nach wie vor prägen orthodoxe Juden das Straßenbild. „Das jüdische Leben geht weiter“, trotzt Nägele den Einschüchterungsversuchen. „Wir wollen den Alltag fortsetzen.“ Bisher musste keine Veranstaltung abgesagt werden. Auch nicht das Kantorenkonzert am Jahrestag der Reichspogromnacht.