Wie wild sind alle in den letzten Monaten durch Europa gereist. Wenn schon nicht das Volk an sich, dann sollte wenigstens das Parteivolk in Stimmung gebracht werden für die, die gerne an der Spitze der EU-Kommission stehen würden. Aber ob Manfred Weber (EVP), Frans Timmermans (S&D), Margrethe Vestager (Liberale) oder jemand völlig anderer – das Ergebnis der EU-Wahl und auch die hohe Wahlbeteiligung lassen den Schluss zu, dass es den Bürgern um die Themen geht, nicht um die Personen.

Die Volksparteien haben verloren, Sozialdemokraten noch mehr als die Christdemokraten, die Rechten haben zugelegt, aber keine Rede mehr vom Erdrutsch. Vor allem aber sind Liberale und Grüne stärker geworden. Ihnen kommt damit in den kommenden Jahren eine entscheidende Rolle zu; und in den kommenden Wochen auch schon, wenn es um die Besetzung von fünf der wichtigsten Posten in der EU geht.

Die für Entscheidungen praktische Mehrheit von Rot und Schwarz ist Geschichte, erstmals nach 40 Jahren. Die beiden großen Blöcke brauchen nun Partner, sonst geht gar nichts mehr. Dennoch erheben beide Anspruch auf den Präsidentensessel – das Prinzip der Spitzenkandidaten enthalte ein Versprechen an die Wähler, auch wenn es keine transnationalen Wahllisten gegeben habe. Die Frage ist: Gibt es diesen Auftrag der Wähler tatsächlich? Timmermans könnte sich für sein Heimatland, die Niederlande, darauf berufen, wo die Sozialdemokraten einen großen Erfolg einfuhren. Weber schon nicht mehr, in Deutschland herrscht bei CDU/CSU Katerstimmung (noch mehr freilich in der SPD, die weit hinter die Grünen zurückfiel). Und schließlich haben beide Fraktionen ja massiv verloren. Am ehesten könnte Margrethe Vestager damit argumentieren. Die aber hat als Teil eines siebenköpfigen Kollektivs kandidiert und erst am Wahlabend ihren Anspruch auf das Amt erstmals ausgesprochen.

Innenpolitik relevant

Nein, der Wählerwille orientiert sich an ganz konkreten Problemen wie Klimawandel und Umweltschutz. Und er ist auch oder gerade bei EU-Wahlen getrieben von innenpolitischen Entwicklungen. So ist der Erfolg von Matteo Salvinis Lega ebenso damit zu erklären wie die 527.000 Vorzugsstimmen für seinen Widersacher Silvio Berlusconi, der nun für die EVP ins Parlament einzieht. Auch die Entwicklung in Frankreich, wo Emmanuel Macrons neue liberale Bewegung zwar erfolgreich landete, aber dennoch von Marine Le Pens Rechten auf Platz zwei verwiesen wurde, kann man nicht einfach der EU um den Hals hängen.

Welche Allianzen sich nun im Parlament bilden, ist offen. Die drei rechten Fraktionen würden zusammengerechnet zwar auf Platz zwei kommen und arbeiten an neuen Fraktionsbildungen, werden aber weder eine Einheit bilden können, noch kommen sie für die übrigen Fraktionen als Partner infrage.

Die Entscheidungsprozesse im EU-Parlament werden in der kommenden Periode breiter und damit „demokratischer“, deshalb aber auch schwieriger. Die Nagelprobe, wie so etwas ablaufen kann, beginnt heute Abend schon. Ein Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs soll die personellen Möglichkeiten ausloten. Beim Dinner spricht man also über die Posten Kommissionspräsident, Parlamentspräsident, Ratspräsident, Außenbeauftragter und diesmal auch EZB-Präsident. Fünf Spitzenfunktionen, die eng miteinander verflochten sind und über die auch das Parlament abstimmt, ebenso wie über die künftigen Kommissare. Die Chancen von Weber als Nachfolger von Jean-Claude Juncker sind gesunken, jene von Timmermans und Vestager gestiegen – aber Freifahrtschein hat keiner von ihnen. Die Liberalen rund um Macron haben schon beim Gipfel in Sibiu darauf hingewiesen, dass sie Weber nicht unterstützen wollen.

Die Frage ist allerdings, ob es nicht doch einen Preis dafür gibt. Eine Variante könnte sein, dass Weber dann ins Berlaymont-Gebäude einzieht, wenn der Liberale Guy Verhofstadt dafür Parlamentspräsident wird, Timmermans könnte Außenbeauftragter sein und Dalia Grybauskaite, frühere Haushaltskommissarin, derzeit litauische Staatspräsidentin und ebenfalls den Liberalen zuzurechnen, wird neue Ratspräsidentin. Oder aber es kommt alles ganz anders. Eine der Prämissen ist jedenfalls: Die EU soll noch deutlicher als bisher mit einer Stimme sprechen, wenn es um die Außenbeziehungen – Russland, China, USA – geht. Heute Abend wird erst einmal die Lage sondiert, beim regulären Gipfel Mitte Juni will man schon weiter sein.

Stichtag für alle Entscheidungen ist der 31. Oktober. Ausgerechnet zu Halloween muss der EZB-Chef bestellt sein (hier ist keine Verzögerung möglich), es ist der letzte Arbeitstag von Jean-Claude Juncker – und es ist der Tag, der für den Brexit als letzte Frist gesetzt wurde.