Was macht eine europäische Stadt aus? Die über Jahrhunderte gewachsene Architektur vielleicht; gewachsen rund um Kirchen, die bis heute die Ortsbilder prägen? Die Menschen, die auf engem Raum in aller Verschiedenheit nebeneinander wohnen, sich aber trotzdem als eine Stadt begreifen? Das Gefühl, sich auf den Straßen sicher fühlen zu können? Oder doch etwas völlig anderes?
Was eine europäische Stadt, eine europäische Gesellschaft ausmachen soll, ist eine Frage, die dieser Tage – wieder – neu verhandelt wird. Während unten in der Innenstadt die Politik im Nationalrat mit dem Kopftuchverbot für Volksschülerinnen ein Zeichen zu setzen versucht, hat sich die Gesellschaft nur wenige Kilometer weiter, am Boschberg im Süden von Wien, längst gewandelt.
Als die Tür der Neuen Mittelschule nahe des ikonischen Wasserturms, der die Skyline im Süden Wiens prägt, am Mittwochmittag aufgeht, sind ganz selbstverständlich auch Schülerinnen mit Kopftuch unter denen, die in die kühle Favoritner Luft laufen. Ob ihnen der Islam wichtig ist? „Is doch wuascht, oida“, antwortet eine der Schülerinnen in reinstem Wienerisch, „wir sind alle Favoritner, das zählt“, und deutet auf ihre Mitschüler, manche mit, manche ohne Kopftuch und mit allen Hautfarben.
Wo Veränderung sichtbar wird
Wien-Favoriten, das ist einer der Orte, an denen die Veränderung von Österreichs Gesellschaft am deutlichsten sichtbar wird. Mit knapp über 200.000 Einwohnern ist der zehnte Gemeindebezirk nicht nur der bevölkerungsreichste der Bundeshauptstadt; er ist auch seit jeher einer, in der die Idee vom „Schmelztiegel“ am greifbarsten geworden ist.
Im 19. Jahrhundert lebten hier, am damaligen Südrand der Stadt, die meisten „Ziegelböhmen“ – die tschechischen Arbeiter, auf deren Ausbeutung in den Ziegelwerken am Wienerberg einst Victor Adler hingewiesen hat, einer der Gründungserzählungen der österreichischen Sozialdemokratie. Es ist kein Zufall, dass in diesem Teil der Stadt, auf der anderen Seite des Gürtels, die ersten Gemeindebauten entstanden,
Auch heute ist Favoriten nicht nur der größte, sondern einer der buntesten Bezirke von Wien: Fast 48 Prozent der Favoritner sind außerhalb Österreichs geboren, nirgendwo anders in der Stadt leben so viele gebürtige Türken und Serben auf engem Raum zusammen.
Battleground Favoriten
Politisch macht das Favoriten zu einem Battleground – darüber, wie eine Stadt in Europa 2019 auszusehen hat. Es ist diese Gegend, die Favoritner Hauptstraße, die sich Viktor Orbáns Kanzleramtsminister János Lázár im Vorjahr ausgesucht hatte, um gegen die offene Gesellschaft vom Leder zu ziehen, um ein klares Feindbild zum christlichen Abendland zu zeichnen, das Orbáns Fidesz-Partei beschwört.: „Einwanderer haben das Stadtbild völlig verändert. Hier sind die Straßen sichtlich schmutziger, die Umgebung ist viel ärmer, und die Kriminalität ist viel höher“, postulierte Lázár auf einem Facebook-Video; „die weißen, christlichen Österreicher sind von hier weggezogen, die Einwanderer haben die Kontrolle über diesen Stadtteil übernommen.“
Die Wiener Stadtregierung reagierte empört: „Ich kann Ungarns Städten nur wünschen, dass sie werden wie Wien“, schrieb die damalige Vizebürgermeisterin Renate Brauner (SPÖ).
Solche "No-Go-Areas" würden sich viele Städte wünschen
Wer heute durch den Bezirk spaziert, dem mag es leicht fallen, seinen Standpunkt bestätigt zu sehen – die Straßen von Favoriten eignen sich als Rorschach-Test, ob man eher Orbáns und Lázárs Weltsicht anhängt oder jener der rot-grünen Stadtregierung.
Denn ja, wenn Favoriten eine „No-go-Area“ ist, wie sie der Fidesz-Politiker an die Wand gemalt hatte, dann könnte man der Welt ruhig mehrere solcher No-go-Areas wünschen: es ist entgegen Lázárs Anwürfen ein sauberer Bezirk, in dem eine Menge moderner neuer Wohnanlagen mit gepflegten Spielplätzen sich mit klassischen Gemeindebau-Burgen abwechseln. Auch von einer „Flucht der Einheimischen“ kann keine Rede sein: Jahr für Jahr ziehen auch innerhalb Österreichs mehr Menschen nach Favoriten als wegziehen. Die Zahl der Anzeigen wegen Gewaltdelikten pro 10.000 Einwohner lag 2017 mit 77 unter dem Wiener Durchschnitt, sogar deutlich unter jener des In-Bezirks Neubau.
Das ist die eine Seite.
Die andere: Favoriten ist sozial deutlich durchmischter als die meisten anderen Regionen in Österreich. Frauen mit Kopftuch sind keine Seltenheit auf den Plätzen und Märkten dieser Stadt; Deutsch als Umgangssprache ist auf vielen Spielplätzen die Ausnahme. Das gefällt in Zeiten, in denen mit Identität Politik gemacht wird, nicht jedem: Die Freiheitlichen, die – ausgerechnet – auf dem Viktor-Adler-Markt mitten im Bezirk regelmäßig große Wahlreden schwingen, ist bei der letzten Gemeinderatswahl 2015 mit 39 Prozent der Stimmen bis auf zwei Prozentpunkte an die SPÖ herangekommen; 2010 waren es noch fünf, die rot und blau trennten.
Kulturkampf? Im Klassenzimmer?
Mehr als jeder zweite Schüler in Wien pflegt zuhause eine nicht-deutsche Umgangssprache (was nicht heißen muss, dass er nicht deutsch kann), an Neuen Mittelschulen sind es fast drei Viertel, wie der Integrationsfonds erhoben hat – ein Thema, das Favoriten mit seinem hohen Anteil an Migranten besonders trifft.
Aus einer dieser Schulen hat im vergangenen Jahr Susanne Wiesinger Alarm geschlagen. Die Lehrerin (damals auch noch sozialdemokratische Personalvertreterin) hat mit ihrem Buch „Kulturkampf im Klassenzimmer“ darauf aufmerksam gemacht, welch verheerenden Einfluss der Islam unter Schülern hätte.
Es sind verstörende Szenen, die Wiesinger beschreibt: Nicht nur, dass Mädchen nicht an Schulveranstaltungen, etwa beim Schwimmen, teilnehmen dürften, sie beschreibt auch, wie muslimische Schüler nach den Attentaten auf die Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo die Mörder als Helden gefeiert hätten. Vonseiten der Politik seit hier lange Akzeptanz mit Toleranz verwechselt worden: „Die vortragenden Referenten vermittelten mir stets den Eindruck, das Problem nicht verstanden zu haben: ,Ändert euch und akzeptiert die Welt, in der eure Schüler leben, wie sie ist. Dann wird Integration gelingen.’“, schreibt Wiesinger.
Ein Problem, das in Reaktion auf Wiesingers Publikation von der Politik nun zumindest vorgeblich angegegangen wird: Die Stadt Wien hat eine Hotline und Soforthilfe-Stellen für überforderte Lehrer eingerichtet; Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) hat Wiesinger selbst als Ombudsfrau ins Ministerium geholt, als die sie derzeit eine Tour durch Schulen in allen Bundesländern absolviert. Ihre Schule sei ja nur „eine typische Wiener Brennpunktschule“ gewesen.
Einige von Wiesingers Kollegen wollen sich dagegen nicht in diese Schublade stecken lassen: „Eine ganz normale Wiener Schule, das würde ich sofort unterschreiben“, sagt eine Favoritner Mittelschul-Lehrerin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will: Ja, es gebe die Probleme, die Wiesinger beschreibe – aber „Kulturkampf“ sei ein zu hartes Wort: „Das klingt, als ob sich zwei gleich starke Lager gegenüberstehen“, sagt die Lehrerin – „aber so ist es ja nicht: das sind einzelne, die sich durch Gruppendynamik größer machen.“
Sozialarbeiter statt Verbote
Eine, die die Frage, welchen Einfluss der Islam an Österreichs Schulen hat, aus nächster Nähe kennt und immer wieder beschreibt, ist Melisa Erkurt. Sie selbst ist AHS-Lehrerin in Wien und hat als Journalistin („biber“, „Falter“) immer wieder kritisch über den steinigen Weg der Integration berichtet.
In ihrem Text „Generation Haram“ etwa beschreibt Erkurt etwa, wie muslimische Burschen Mädchen unter dem Schlagwort „haram“ – alles, was nach der islamischen Scharia verboten ist – Vorschriften machen, wie sie sich kleiden, verhalten, in den Sozialen Medien präsentieren dürfen. „Ja richtig, es ist nur ein kleiner Teil der Jugendlichen, die so drauf sind“, schreibt Erkurt. Aber diese Gruppe werde „größer, einflussreicher und gefährlicher.“
Das Kopftuchverbot hält Erkurt für die falsche Methode, solchen Auswüchsen zu begegnen. „Ich finde es falsch, Mädchen vorzuschreiben, was sie anziehen sollen“, sagt sie – aber erstens habe sie mit vielen Familien gesprochen: in jenen konservativ-muslimischen Kreisen, in denen schon Volksschülerinnen ein Kopftuch tragen müssen, werde das Verbot nur zur Folge haben, dass Töchter noch strenger reglementiert würden: „Dann bringt sie der Bruder zur Schule, holt sie wieder ab und achtet schon dann darauf, dass sie sich bis dorthin wieder richtig kleidet“. Zum anderen: „Was für ein Frauenbild vermittelt das, wenn zwar nicht die Religion, aber der Staat vorschreibt, wie sich ein Mädchen anzuziehen hat?“
Sinnvoller schiene Erkurt, mehr Sozialarbeiter an Schulen einzusetzen, wenn Burschen etwa den Islam vorschöben, um Kontrolle auszuüben: „pro Klasse sind es meistens ein oder zwei“, sagt Erkurt – meistens übrigens nicht die in der öffentlichen Debatten oft verrufenen Migranten türkischer Herkunft. Lehrer bräuchten Unterstützung und mehr Ressourcen, um Schülerinnen und Schülern zu zeigen, dass sie andere Chancen hätten – „pubertäre Großmäuler, die keinen Respekt vor Frauen haben, werden Erwachsene ohne Perspektive, die ihre Kinder genauso erziehen.“
Wie es weiter geht, ist offen
Wiens Gesellschaft verändert sich. Die Demographie zeigt, dass es das Modell Favoriten langfristig die Zukunft der Stadt sein könnte: Manchen Rechenmodellen nach werden Muslime 2050 die mitgliederstärkste Konfession der Hauptstadt sein – in anderen die Konfessionslosen.
Welchs Szenario davon eintritt – und ob man darin einen Kulturkampf, ein Schlachtfeld um die Seele Europas sehen will, ist nicht zuletzt auch eine politische Frage.
Georg Renner