Der Zeitrahmen war denkbar knapp. Am 17. März erst machte die EU-Kommission den legislativen Vorschlag für ein EU-weit gültiges, digitales Zertifikat, das verlässliche Angaben über die „drei G“ (geimpft, getestet, genesen) enthalten und gleichzeitig die Datenschutzregeln einhalten sollte, ab Donnerstag ist dieser „Grüne Pass“ in Betrieb und offiziell gültig. Doch ohne Hindernisse und Verwirrungen geht es auch in diesem Fall nicht.
Zunächst einmal die an sich erfreulichen Fakten: Alle EU-Länder sind technisch über das von der Kommission zur Verfügung gestellten Gateway vernetzt, dazu kommen auch Liechtenstein, Schweiz, Island und Norwegen. Das Zertifikat enthält notwendige zentrale Informationen wie Name, Geburts- und Ausstellungsdatum sowie Angaben zu Impfstoff/Test/Genesung und ein individuelles Erkennungsmerkmal. Diese Daten bleiben Teil des Zertifikats und werden nicht gespeichert oder einbehalten, wenn ein Zertifikat in einem anderen Mitgliedstaat überprüft wird. Die Kommission betont: Alle gesundheitsbezogenen Daten verbleiben bei dem Mitgliedstaat, der das digitale Covid-Zertifikat der EU ausgestellt hat. Üblicherweise läuft das Zertifikat über eine App und den QR-Code, es kann aber auch in Papierform ausgestellt bzw. ausgedruckt werden.
Bis 12. August brauchen einige Länder eine legislative Übergangsfrist, in dieser Zeit können dort auch „herkömmliche“ Nachweise eingesetzt werden. Aktueller Stand laut EU-Kommission: ein Großteil der EU-Länder, darunter auch Österreich, arbeitet seit heute voll mit dem System, in einigen Ländern ist man aber noch in der Übergangsphase: Zypern, Ungarn, Irland, Malta, Niederlande, Schweden, Rumänien und die Schweiz, mit der es eigene Verhandlungen gibt, haben alle Funktionen noch nicht freigeschaltet.
Rätselraten um akzeptierte Impfstoffe
In der EU blieb man dabei, dass bei der Aufhebung der Freizügigkeitsbeschränkungen jene Impfstoffe zwingend akzeptiert werden müssen, die von der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA zugelassen sind. Allerdings können in diesem und in einer Reihe anderer Punkte die Mitgliedsländer frei entscheiden, ob sie auch andere Impfstoffe (etwa aus China) akzeptieren. Österreich akzeptiert alle Mittel, die auf der erweiterten WHO-Liste aufscheinen, in Brüssel selbst ist nicht bekannt, welche Länder nun genau welche Vakzine zulassen. Ebenso ist es den Ländern überlassen, ob sie Freiheiten schon nach einer Impfung (wie in Österreich) oder erst nach beiden Impfungen (wie in den anderen Ländern) gestatten. Die EU-Kommission empfiehlt, für Reisezwecke bereits eine Impfung zu akzeptieren. Weitere Baustelle: Für welche Zwecke welcher Test reicht, also der einfachere Antigentest oder der genauere RT-PCR-Test, kann ebenfalls individuell entschieden werden. Selbsttests werden nicht akzeptiert.
Da Brüssel auf nationale Gesundheitsbelange der Mitgliedsländer bekanntlich kaum Durchgriffsmöglichkeiten hat, ist trotz der befreienden digitalen Grundlage nun doch wieder ein „Fleckerlteppich“ zu befürchten, tagesaktuelle Nachrichten untermauern das längst. Die deutsche Bundesregierung stuft Portugal seit zwei Tagen als Virusvariantengebiet ein. Für vorerst 14 Tage gilt damit ein grundsätzliches Beförderungsverbot für Reisende aus Portugal. Ausgenommen sind Deutsche sowie Bürger aus der EU oder mit anderen Nationalitäten, die einen Wohnsitz in Deutschland haben. Sie müssen sich allerdings in eine 14-tägige Quarantäne begeben, die nicht durch Tests verkürzt werden kann. Diese Maßnahme ist über die EU klar geregelt, sie gilt als „Notbremse“, auf der die Mitgliedsländer bestanden haben, um auf neue Entwicklungen reagieren zu können.
Fluglinien wollen Erleichterungen
Europäische Airlines und Flughafenbetreiber haben diese Woche vor deutlichen Verzögerungen bei der Passagierabfertigung durch den Start des EU-Impfzertifikats gewarnt. Es gebe "große Betriebsrisiken aufgrund der uneinheitlichen Vorgehensweise der Mitgliedstaaten", erklärten die Verbände europäischer Fluggesellschaften und Airport-Betreiber am Dienstag. Dies und doppelte Dokumentenkontrollen könnten zu wesentlich höheren Check-in-Zeiten für die Passagiere führen. Die Kontrolle der Corona-Zertifikate sollte schon vor der Abfahrt zum Flughafen erfolgen. Dabei müssten staatliche Online-Portale zur Überprüfung bereitgestellt werden, damit die Kontrolle direkt durch die Behörden erfolgen könne und der Aufwand für die Fluggesellschaften begrenzt bleibe. Verbleibende Kontrollen am Flughafen müssten durch eine einheitliche Überprüfungsapp erfolgen können, hieß es weiter. Auf die Kontrolle des Impf-Zertifikats am Zielort solle verzichtet werden.
Ein eigenes Thema ist der Umgang mit Drittstaaten. Die EU hat zwar die Tore für Reisende aus den USA geöffnet und bietet eine einfache Implementierung der Impfdaten an, allerdings hat Amerika das umgekehrt nicht gemacht; Schwierigkeiten für USA-Reisende könnte es geben, weil in den Staaten zum Beispiel AstraZeneca nach wie vor nicht zugelassen ist. Anfang Juni durften dort etwa Astra-Geimpfte nicht bei einem Bruce Springsteen-Konzert teilnehmen, alle andere schon.
Griechenland hingegen wollte an sich russische Touristen, die mit Sputnik geimpft sind, ungehindert einreisen lassen – nach Kritik aus Deutschland und Frankreich wird jetzt trotzdem noch ein PCR-Test verlangt. Die Grundidee der EU, vor allem einmal die Reisefreiheit wiederherzustellen, soll an sich durch individuelle Freiheiten ergänzt werden. „Wir reden von Konzerten, Theater und so weiter“, sagte gestern EU-Justizkommissar Didier Reynders: „Wir möchten aber gerade Verwirrung vermeiden.“ Das Zertifikat sollte für alle Zwecke eingesetzt werden – je mehr, desto besser. Wenn strengere Maßnahmen wieder eingeführt werden, müssen Kommission und die anderen EU-Länder vorab informiert werden, verhindern lässt sich das aber nicht. Mangelnde Koordination lässt sich häufig an einfachen Beispielen erkennen: so wird in vielen Ländern bei der Einreise ein bis zu 72 Stunden alter PCR-Test akzeptiert, im Urlaubsland Spanien etwa darf er nicht älter als 48 Stunden sein.
Kritische Stimmen zum Start
Zum Start des Grünen Passes wurden gestern prompt kritische Stimmen laut. Die Liberale Nicola Beer, Vizepräsidentin des EU-Parlaments, warnte vor einer Mogelpackung: „Zum Start herrscht Chaos in den EU-Mitgliedsstaaten und bei nationalen Behörden mit Blick auf die praktische Umsetzung des EU-weiten Impfzertifikats. Zahlreiche Bürgerinnen und Bürger werden von den Ländern orientierungslos und mit großen Fragezeichen allein gelassen.“ Dass die technische Umsetzung klappt, sei nur „die halbe Miete“. Beer: „Die Mitgliedstaaten müssen nun eiligst Hand anlegen, um das selbst verursachte Flickwerk zu beseitigen und die nationale Anerkennung schleunigst zu vollziehen.“
Ähnlich äußerte sich Andreas Schieder, für die SPÖ im Europaparlament: „Der erhoffte Gamechanger ist das vorerst nicht. Trotz digitalem EU-Zertifikat bleibt der Blick auf die Landkarte mit viel zu vielen Fragezeichen verbunden.“ Zu Beginn der Sommerzeit sei das Resultat enttäuschend, weil einzelne Staaten im Alleingang unterwegs seien und kein transparentes und koordiniertes Vorgehen erkennbar sei.