Der Vorfall könnte aus einem Agentenfilm stammen, hält aber seit Sonntag die halbe Welt in Atem: Weißrussland hat einem Flugzeug der irischen Ryanair, das zwischen zwei EU-Ländern unterwegs war, unter einem Vorwand den Befehl zur Landung erteilt – um den Oppositionellen und Journalisten Roman Protassewitsch (26)und dessen Freundin Sofia Sapega festzunehmen. EU-Außenbeauftragter Josep Borrell forderte im Namen aller 27 Mitgliedsländer die sofortige Freilassung Protassewitschs, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach von einer „Entführung“, Ratspräsident Charles Michel von einem „internationalen Skandal“ und Sanktionen als Antwort – der Vorfall werde „nicht ohne Konsequenzen bleiben“.
Passenderweise begann für die Staats- und Regierungschefs gestern Abend in Brüssel ein zweitägiger Sondergipfel, der eigentlich Themen wie Corona und Klimawandel, aber auch der Außenpolitik und etwa den Beziehungen zu Russland gewidmet ist. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) traf kurz vor Beginn des Gipfels mit Charles Michel zusammen und ersuchte ihn, „konkrete Vorschläge“ über eine adäquate EU-Reaktion vorzulegen. Österreich, das starke wirtschaftliche Verbindungen mit Weißrussland hat, werde die Maßnahmen der EU gegen das Land jedenfalls unterstützen, so Kurz gestern Abend.
Zu Beginn der Debatte mussten die Staats- und Regierungschefs ihre Handys abgeben. Die Einigung erfolgte dann sehr schnell. Es gibt weitere Sanktionen gegen Einzelpersonen, wie sie jetzt schon mehrere Dutzend Menschen betreffen, es sollen weiters Landeverbote für Maschinen der weißrussischen Fluggesellschaft Belavia kommen, dazu auch Überflugverbote. In der Gipfelerklärung ist auch die Aufforderung an EU-Fluggesellschaften enthalten, Überflüge über belarussisches Gebiet zu vermeiden. Mehrere Unternehmen kündigten das bereits an, darunter auch die AUA-Mutter Lufthansa und die AUA selbst. Die EU verlangt auch, dass der Vorfall von der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation ICAO untersucht wird. Ähnlich hatte sich auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg geäußert.
Internationale Untersuchung
EU-Parlamentspräsident David Sassoli forderte eine internationale Untersuchung des Vorfalls, um festzustellen, ob „die Sicherheit der Passagiere von einem souveränen Staat gefährdet wurde und ob ein Verstoß gegen die Chicagoer Konvention vorliegt“. Das Abkommen regelt die Grundlagen des internationalen Luftverkehrs.
Abseits des alles dominierenden Themas versuchten die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Treffen, die vielen anderen ungelösten Fragen anzugehen. Die EU müsse dringend einen Gang höher schalten, meint der Delegationsleiter der SPÖ im EU-Parlament, Andreas Schieder: „Europa muss einiges an verlorener Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, das gilt nicht nur für den Grünen Pass, der das Ende willkürlicher Grenzkontrollen und verwirrender Quarantänebestimmungen bringen muss, das gilt auch für Themen wie das Vorgehen gegenüber Russland und die Klimakrise.“
Russland
Als erster Programmpunkt des EU-Gipfels war tatsächlich eine strategische Debatte zu Russland geplant. „Russlands illegale und provokative Schritte sind weitergegangen, sowohl innerhalb der EU-Mitgliedstaaten als auch darüber hinaus, zuletzt mit der sogenannten Liste ,unfreundlicher Staaten‘“, schrieb Ratspräsident Charles Michel in seinem Einladungsbrief. Der Europäische Rat verurteile „die illegalen und provokativen russischen Aktivitäten gegen die EU, ihre Mitgliedstaaten und darüber hinaus“, heißt es im Entwurf der Gipfelerklärung. EU-Außenbeauftragter Josep Borrell und die EU-Kommission sollen den Auftrag erhalten, eine Bestandsaufnahme der Beziehungen zu machen, über konkrete Konsequenzen will man dann beim Juni-Gipfel beraten. Ob Russland auch in Zusammenhang mit dem Vorfall in Belarus steht, wollte der Gipfel zunächst nicht erörtern, auch Kanzler Kurz wollte sich auf keine Spekulationen einlassen, solange man nicht mehr wisse.
Großbritannien
Dieses Thema ist trotz oder gerade wegen des vollzogenen Brexits noch lange nicht vorbei. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht neue Probleme in den Beziehungen zwischen UK und EU auftauchen. Michel hielt vorab schon fest, Großbritannien müsse das Prinzip der Nicht-Diskriminierung unter EU-Staaten achten.
Naher Osten
An diesem Thema kommt Europa nicht vorbei. Die Beratungen der Staats- und Regierungschefs über die Lage nach Israels Waffenruhe mit der islamistischen Hamas fielen gestern aber kurz aus. Parallel dazu laufen auf dieser Ebene aber schon die Vorbereitungen für den Mitte Juni geplanten Besuch des US-Präsidenten Joe Biden in Brüssel.
Grüner Pass
Heute Vormittag geht der Gipfel mit dem eigentlichen Thema Nummer eins weiter: der Grüne Pass. Die technischen Vorarbeiten scheinen auf einem guten Weg zu sein, was aber noch fehlt, ist, was die Mitgliedsländer mit dem Zertifikat anfangen – der Pass soll freies Reisen wieder ermöglichen, alle Maßnahmen (Quarantäne, Restauranteintritt, Hotelbuchungen usw.) sind aber Ländersache. Am Starttermin 1. Juli wird nicht mehr gerüttelt.
Corona und die Folgen
Dazu geht es auch um allgemeine Fragen in Zusammenhang mit der Pandemie, etwa die Bereitstellung von Impfstoffen für Drittländer über die Covax-Initiative. Ab Herbst rechnet man mit bis zu 100 Millionen zur Verfügung stehenden Dosen, die weitergegeben werden. Erst am Wochenende war beim EU-Gesundheitsgipfel in Rom der Beschluss gefallen, rund 3,5 Milliarden Dosen für Drittländer bereitzustellen.
Klimawandel
Das ist das eigentliche Spitzenthema des Gipfels, es kommt heute zur Sprache. Die Erhöhung des Klimaziels auf minus 55 Prozent CO2-Ausstoß bis 2030 bringt eine Reihe von Problemen mit sich – unter anderem geht es dabei um die Aufteilung der Belastung zwischen reichen und armen Ländern und Folgen für die Wirtschaft.