Ganz zum Schluss war immer noch Platz für eine Überraschung: Der eigentlich für heute angesetzte zweite Teil des regulären EU-Gipfels entfällt - alles, was gesagt werden konnte, wurde am Donnerstag schon gesagt.

Ratspräsident Charles Michel hatte sich wohl eher einen „Wohlfühlgipfel“ vorgestellt, bei dem man sich nach Besprechung der aktuellen Pandemielage über südliche Nachbarschaft, künftige Beziehungen zur Türkei und das digitale Europa annähern würde – deshalb versuchte er auch, den drohenden, von Österreich befeuerten Streit über die ungerechte Impfstoffverteilung abzuwehren.

Es kam also anders. Den Verhandlungsteams war es trotz Tag- und Nachtschichten im Vorfeld des virtuellen Gipfels nicht gelungen, das Thema vom Tisch zu bringen und eine Lösung zu finden. Sebastian Kurz (ÖVP) gab sich vor Beginn des Treffens kämpferisch: „Wenn die Impfstoffverteilung kein Thema für einen Gipfel sein soll, was dann?“

Heftige Debatten um gerechte Verteilung

Die Gespräche fanden wie immer hinter verschlossenen Polstertüren und von Bildschirm zu Bildschirm statt, dennoch sickerte bald durch, dass es zwischen Kurz und anderen Staats- und Regierungschefs ordentlich gekracht habe wegen der Verteilung der Sonderration. Wie berichtet, hatte die EU-Kommission ein vorgezogenes Kontingent von zehn Millionen Dosen Biontech/Pfizer angeboten, mit denen die Rückstände der beim individuellen Ankauf entstandenen Impfstoffversorgung ausgeglichen werden könnten. Deutschland und andere Länder wollten drei Millionen Dosen speziell dafür aufwenden, der Rest sollte nach dem „Pro-rata-Prinzip“ wie geplant auf alle Länder aufgeteilt werden – was manchen, auch Österreich, immer noch nicht ausgewogen genug erschien.

Kurz "froh, erleichtert und zufrieden"

Kroatien soll in der heftigen Debatte zwischendurch gar mit Veto gedroht haben. Der Abend endete nach Stunden schließlich mit einem akzeptablen Kompromiss: Die ganze Sache wird der heftig kritisierten „Steuergruppe“ auf Beamtenebene abgenommen und soll von den EU-Botschaftern weiterverhandelt werden, die eine „solidarische“ Lösung ausarbeiten sollen. Dieser Schritt fand schließlich sogar Eingang in die Ratsschlussfolgerungen. Kurz zeigte sich danach „froh, erleichtert und zufrieden“ und dankte Ursula von der Leyen, Charles Michel und Ratsvorsitzendem António Costa für die „gute Lösung für alle“.

Kurz: "Wir haben uns intensiv für eine gerechtere Auslieferung der Impfstoffe in der Europäischen Union eingesetzt. Nachdem sich zahlreiche Staaten hier für mehr Gerechtigkeit und Solidarität ausgesprochen haben, gab es den gemeinsamen Beschluss, dass durch die 10 Millionen zusätzlichen Impfdosen eine gerechtere Auslieferung der Impfstoffe in der EU im zweiten Quartal erreicht wird. Die Detailumsetzung wird ab jetzt von den EU-Botschaftern und nicht mehr vom Steering Board durchgeführt."

Exportkontrolle

Debattiert wurde auch über die Verschärfung der Exportkontrolle, die von der Kommission am Mittwoch präsentiert worden war. Präsidentin Ursula von der Leyen legte am Gipfel erstaunliche Zahlen vor. Von den knapp 450 Millionen EU-Bürgern sind inzwischen 62 Millionen mindestens einmal gegen Corona geimpft. 18,2 Millionen Menschen haben auch ihre zweite Dosis schon bekommen. Die EU-Länder erhielten bisher 88 Millionen Impfdosen von den Herstellern – seit 1. Dezember wurden aber gleichzeitig 77 Millionen Dosen aus der EU in Drittländer exportiert. Davon gingen allein 21 Millionen Dosen nach Großbritannien. Die stärkeren Kontrollen sollen sicherstellen, dass ein „fairer Anteil“ in der EU bleibt; Bedenken dagegen gibt es von Ländern wie Belgien oder Deutschland, die vor „Vergeltungsaktionen“ in den internationalen Lieferketten für die Vorproduktion warnen.

Wesentlich klarer lief der Abend beim Thema Außenpolitik, die Schlussfolgerungen zur Türkei wurden angenommen. Es werden konkrete Belohnungen für eine Deeskalation des Erdgasstreits im östlichen Mittelmeer in Aussicht gestellt, etwa eine Ausweitung der Zollunion und Visafreiheit für Türken in der EU. Eine Entscheidung darüber soll allerdings erst beim nächsten Gipfel im Juni getroffen werden. In der Gipfelerklärung wird immerhin die Menschenrechtssituation in der Türkei angesprochen, die ein „zentrales Anliegen“ der EU bleibe.

© AP

Wie geplant, wurde im Lauf der Gipfelkonferenz US-Präsident Joe Biden zugeschaltet, der unmittelbar davor in Washington bekannt gegeben hatte, sich 2024 um eine zweite Amtszeit im Weißen Haus bewerben zu wollen. Biden hielt eine kurze Rede zum Neustart der transatlantischen Beziehungen; zuletzt war 2009 der damalige Präsident Barack Obama bei einem EU-Gipfel dabei.

Sogar ein kurzer Euro-Gipfel mit EZB-Chefin Christine Lagarde ging sich schließlich noch aus; dann war Schluss.