+++Gegen 11 Uhr musste heute die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin den EU-Gipfel in Brüssel verlassen, weil jemand aus ihrer engeren Umgebung positiv auf Covid getestet worden war. Gestern traf es Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der Hohe Außenbeauftragte Josep Borell ist ebenso wie der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki ebenfalls in Quarantäne.+++
Heute geht der reguläre Herbstgipfel in Brüssel weiter mit Außenpolitik, es wird um die Türkei gehen, um Berg-Karabach, Weißrussland und die Russland-Sanktionen sowie um die Beziehungen zu Afrika. Letzter Punkt der Tagesordnung ist offiziell dann die Pandemie, doch war das bereits gestern nach dem Abendessen ungeplant Thema Nummer eins.
Das Thema überlagerte den EU-Gipfel in Brüssel schon am ersten Tag von Beginn an. Im Vorfeld hatte Bundeskanzler Sebastian Kurz auf bessere Abstimmung auf europäischer Ebene gedrängt und auf die zunehmend dramatische Situation hingewiesen. Er betonte, dass die Probleme in "allen europäischen Ländern gleich" sind. Alle Staats- und Regierungschefs hätten bei der Debatte davon gesprochen, dass "wir mitten in der zweiten Welle in Europa angelangt sind", berichtete er. Überall würden die Zahlen massiv ansteigen, "in manchen Ländern etwas früher in manchen Ländern etwas später".
„Wir haben in Tschechien einen De-facto-Lockdown, wir haben einzelne Städte, die praktisch von der Außenwelt abgeschnitten sind, wir haben in Spanien oder Frankreich vollkommen geschlossene Gastronomie oder die Reduktion des sozialen Lebens auf ein Minimum.“ Die EU könne nicht alles regeln, aber wenigstens einen Konsens erzielen, der das Reisen gestatte: „Ich halte es für einen sinnvollen Ansatz und erreichbares Ziel, dass man sich freitesten kann.“
Ratsvorsitzende Angela Merkel sagte im Anschluss, die Staats- und Regierungschefs würden sich in nächster Zeit öfter als bisher über Videokonferenzen austauschen; es gebe "viel Einvernehmen", es sei aber auch klar, dass sich jeder auch mit seiner Regierung daheim jeweils absprechen müsse.
Die Corona-Situation ist laut Sebastian Kurz in "allen europäischen Ländern gleich". Alle Staats- und Regierungschefs hätten bei der Debatte im Rahmen des EU-Gipfels am Donnerstag davon gesprochen, dass "wir mitten in der zweiten Welle in Europa angelangt sind", berichtete Kurz nach dem Treffen. Überall würden die Zahlen massiv ansteigen, "in manchen Ländern etwas früher in manchen Ländern etwas später".
Alle Regierungen, so Kurz weiter, hätten mit denselben Herausforderungen zu kämpfen: "Sehr viele Beschwichtiger, aber gleichzeitig, die Gewissheit, dass wenn sich das Wachstum weiter so fortsetzt, dass wir definitiv an einem problematischen Punkt angelangen." Ab einem gewissen Level werde Contact-Tracing unmöglich für die Behörden, erklärte der Bundeskanzler. Die Folge wäre ein Lockdown. "Das ist überall dasselbe Muster." Er forderte nicht zuzuwarten, sondern zu reagieren.
An die Bevölkerung appellierte Kurz, die Lage "ernst zu nehmen". Partys und Feiern würden nicht nur gesundheitlich gefährlich sein, sondern könne "das Verhalten auch dazu führen, dass viele Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren, weil drastische Maßnahmen" verhängt werden müsste. Auch an die "besonders betroffenen Bundesländer" bekräftigte der Bundeskanzler seinen Appell, zu reagieren.
Erklärung zu Brexit-Verhandlungen
Der Gipfel begann schließlich in Abwesenheit des polnischen Regierungschefs Mateusz Morawiecki (Corona-Quarantäne) und schon nach kurzer Zeit musste ihn auch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen verlassen, in deren Kabinett jemand positiv getestet worden war. Entsprechend zügig beschäftigten sich die Staats- und Regierungschefs mit dem ersten großen Thema Brexit und verabschiedeten noch vor dem Abendessen eine Erklärung: Die Verhandlungen werden mit Hochdruck fortgesetzt, man werde „alle Chancen nutzen“, sagte Chefverhandler Michel Barnier, um wie üblich zu ergänzen: „Aber nicht um jeden Preis.“ Fischerei, Streitschlichtung und fairer Wettbewerb sind die offenen Hauptpunkte, Barnier ortet unverdrossen Zeichen des guten Willens. Doch der Gipfel stellte klar: Es liegt an Großbritannien, jetzt Entgegenkommen zu zeigen. Die Briten reagierten angesäuert, unter anderem deshalb, weil im Schlussdokument aus den „intensiven“ Gesprächen, wie noch im Entwurf enthalten, nur noch „Gespräche“ wurden. Da half es nicht viel, dass Barnier bei der folgenden Pressekonferenz eh wieder von einer „Intensivierung“ sprach. Am Freitag nach dem Gipfel will sich Premier Boris Johnson dazu äußern.
Budget diesmal nur ein Randthema
EU-Parlamentspräsident David Sassoli blieb es überlassen, wenigstens bei seinem Eingangsstatement auf die verfahrenen Verhandlungen um Budget, Aufbauprogramm und Rechtsstaatlichkeit hinzuweisen, die Mitgliedsländer halten sich aus dieser Debatte eher heraus, zumindest drang nichts nach außen. Dabei ist auch bei dieser Frage der zeitliche Spielraum kaum noch vorhanden, aber offensichtlich will sich niemand in die Karten schauen lassen, während die Verhandlungen laufen – unter schwierigsten Bedingungen übrigens, denn kaum ein Tag vergeht, an dem nicht irgendjemand aus den Verhandlungsteams in Quarantäne oder zumindest ins Homeoffice muss.
Beim Dinner ging es immerhin um einen damit verknüpften Punkt, die Klimaziele. Elf EU-Länder, darunter alle „Frugalen“ außer Österreich, stellten sich schon vor dem Gipfel hinter das neue 55-Prozent-Ziel bis 2030; bisher galt minus 40 Prozent, beim nächsten Gipfel im Dezember soll abgestimmt werden. Warum ist Österreich nicht dabei? Sebastian Kurz findet den Vorschlag zwar ambitioniert und sinnvoll, will aber Begleitmaßnahmen, um den Wirtschaftsstandort Europa zu schützen: „Wir haben nichts davon, wenn wir die Standards erhöhen und dann Produkte aus anderen Teilen der Welt importieren, wo das nicht so ist.“ Bulgarien und Tschechien lehnen das neue Ziel ab. Der Gipfel konnte sich aber doch auf eine Erklärung einigen, wonach das Ziel ernsthaft angenommen wird, es sollen bis Dezember Daten gesammelt und offene Fragen geklärt werden.
Beratungen bis zum Dezember-Gipfel
Im Anschluss sagte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Grundzeichen seien durchwegs positiv gewesen, es brauche nun aber bis Dezember intensive Beratungen.
Die EU-Staats- und Regierungschefs bekräftigten in ihren Gipfelschlussfolgerungen, dass das neue CO2-Reduzierungsziel "gemeinsam durch die EU in der möglichst kosteneffizientesten Weise" erreicht werden soll. Zwar sollten alle Mitgliedstaaten beitragen, dabei sollten aber "nationale Umstände" berücksichtigt werden.
Dies bedeutet, dass das neue Klimaziel nicht von allen EU-Staaten auf nationaler Ebene erreicht werden muss, sondern nur insgesamt durch die 27 Mitgliedsländer. Dies fordern insbesondere osteuropäische Regierungen, deren Wirtschaft noch stark auf Kohle ausgerichtet ist. Das geltende Ziel einer CO2-Reduktion von 40 Prozent bis 2030 "ist für uns die absolute Obergrenze", sagte Bulgariens Ministerpräsident Boiko Borissow beim Gipfel.
Heute geht der Gipfel um 9.30 Uhr weiter.