Den Reigen an Rückblicken auf seine Amtszeit eröffnete er selbst. Im April, im EU-Parlament in Straßburg, begann der lange Abschied von Jean-Claude Juncker mit einer Liebeserklärung. „Europa muss man lieben“, sagte er vor den Abgeordneten. So habe er es am ersten Tag seiner Amtszeit gesagt und das sei bis heute so.
Juncker ist der erste und einzige „Spitzenkandidat“, der Kommissionspräsident wurde. Damals, 2014, war alles anders. Konservative (EVP) und Sozialdemokraten (S&D) hatten eine gemeinsame Mehrheit und konnten sich den Deal in Ruhe ausschnapsen; Martin Schulz (SPD) wurde ein weiteres Mal Parlamentspräsident, EVP-Mann Juncker kam an die Spitze der Kommission – mit 33.000 Beamten mächtigste Behörde der EU. Freilich hatte er es wegen seiner Biografie wesentlich leichter als der nun gescheiterte Manfred Weber (CSU).
Juncker, aufgewachsen in Luxemburg als Sohn eines Stahlarbeiters, war zwar Rechtsanwalt geworden, schlug aber von Beginn an den Weg eines Berufspolitikers ein. Erst Staatssekretär, dann Minister (Arbeit und Finanzen) und Gouverneur Luxemburgs bei der Weltbank. Er war am Vertrag von Maastricht maßgeblich beteiligt, ehe er 1995 als Nachfolger von Jacques Santer – der Kommissionschef wurde – zum Premierminister von Luxemburg aufstieg. Ehe er 2013 als damals längstdienender Regierungschef der EU das Amt abgab, leitete er acht Jahre lang die Eurogruppe. Eigentlich wollte er ja Ratspräsident werden. Wenn er heute von seiner Wahl in die Kommission erzählt, dann klingt fast so etwas wie Stolz durch, dass es damals zwei Länder waren, die ihn verhindern wollten: Ungarn mit Viktor Orbán und Großbritannien mit David Cameron.
Brexit als wunder Punkt
Die Briten und ihr Ausstieg aus der EU gehören zu den wunden Punkten in Junckers Laufbahn. Er selbst bezeichnet es als einen seiner größten Fehler, dass er sich während der Referendumskampagne auf ausdrückliches Ersuchen Camerons nicht eingemischt habe: „Es war ein Fehler, dass ich in diesem entscheidenden Moment geschwiegen habe. Wir hätten als Einzige die kolportierten Lügen aufzeigen können.“ Wie ein Treppenwitz der Geschichte mutet es da an, dass ausgerechnet der völlig chaotische Umgang der Briten mit der historischen Entscheidung die Einheit der EU-27 stärkte und Juncker, zusammen mit Chef-Unterhändler Michel Barnier, zur zentralen Stabilitätsfigur machte.
Einen zweiten wunden Punkt spricht Juncker auch an, wenn er nach Fehlern gefragt wird: Er habe in der „Luxleaks-Affäre“ zu viel Zeit bis zu einer Äußerung verstreichen lassen. Als Finanzminister und Premier in Luxemburg wurde ihm vorgeworfen, mitverantwortlich gewesen zu sein für Hunderte Fälle, in denen multinationale Konzerne in Luxemburg auf Kosten anderer EU-Länder Steuerzahlungen vermieden. Heute noch zählt Luxemburg neben Irland zu den europäischen „Steueroasen“.
Griechenland blieb in der Eurozone
Als größten Erfolg sieht er hingegen, dass es gelang, das hoch verschuldete Griechenland in der Eurozone zu lassen. Die Krise habe gezeigt, dass sich Europa mit politischem Willen, Einigkeit und Entschlossenheit weiterentwickle. Auf der Habenseite stehen auch viele Neuerungen, die für die Bürger wahrnehmbar sind: Ende der Roaming-Gebühren, Verbot von Einwegplastik, Datenschutz-Grundverordnung oder Entsenderichtlinie sind Beispiele aus jüngster Zeit. Umstrittener ist die Bilanz des Investitionsfonds EFSI, der unter dem Titel „Juncker-Plan“ bisher Investitionen von 400 Milliarden Euro angestoßen hat – Wirtschaftsforscher äußern Zweifel an der Effizienz. Juncker verweist darauf, dass seit seinem Amtsantritt 12,6 Millionen Arbeitsplätze geschaffen worden seien. 2017 legte er fünf Zukunftsszenarien für die EU vor: das „Weißbuch“ der Kommission.
Jean-Claude Juncker hatte wohl auch mit Schwierigkeiten zu kämpfen, deren Entstehung man ihm nicht anlasten kann. Die große EU-Erweiterung um die Ostländer – und deren bis heute schwierige Eingliederung – war 2009 passiert, der Aufstieg der Rechtspopulisten fußt nur zum Teil auf der oft zu spät und zu verworren agierenden EU-Politik, er hat seine Wurzeln in den Ländern. Die Gräben zwischen Ost und West sind aber größer geworden, das konnte Juncker nicht verhindern. Und er gibt zu, dass der Umgang mit Migration und Asylwesen einer dringenden Reform bedarf.
Schrullige Auftritte
Trotz der gewaltigen Aufgaben, die die Union zu bewältigen hatte, waren es immer wieder schrullige und skurril erscheinende Auftritte des Kommissionspräsidenten, die Schlagzeilen machten. Den ungarischen Regierungschef Viktor Orbán begrüßte er mit „Hallo Diktator“ und gab ihm dabei eine – leichte – Ohrfeige, um die Welt gingen die Bilder, als er den belgischen Premier Charles Michel auf die Glatze küsste oder der stellvertretenden Protokollchefin der EU-Kommission, Pernilla Sjölin, zur Begrüßung kräftig durch die Haare wuschelte. Gerüchte um ein Alkoholproblem stellte er stets in Abrede; als er beim Nato-Gipfel vergangenes Jahr von Regierungschefs gestützt werden musste, verwies er auf sein chronisches Ischias-Problem. Tatsächlich hatte Juncker 1989 einen schweren Autounfall und lag wochenlang im Koma, davon sollte er sich nie mehr ganz erholen. Seither hat er wiederkehrende Krämpfe und Gleichgewichtsstörungen, das Gehen fällt ihm schwer.
Wenige Tage nach dem Nato-Vorfall war er es dann, der bei US-Präsident Trump drohende Strafzölle abwenden und einen Deal schließen konnte – kaum ein anderer hätte das geschafft.
Juncker, der langjährige Tirol-Urlauber, hat seinen letzten Arbeitstag am 31. Oktober. Halloween – der Tag, der auch für Großbritannien der letzte in der EU sein soll.