„Der Brexit liegt hinter uns, die Verhandlungen sind beendet“: EU-Chefverhandler Michel Barnier sitzt entspannt in einem der großen Besprechungssäle des Brüsseler Kommissionsgebäudes. Er gibt einer kleinen Gruppe von Journalisten, darunter die „Kleine Zeitung“ als einziges österreichisches Medium, ein Interview am Höhepunkt seiner Karriere – was ihm großen Spaß bereitet, wie er später sagen wird. Vor ein paar Tagen ist der Franzose 70 geworden; die Dynamik und die Energie, die er ausstrahlt, sind außergewöhnlich. Warum die Verhandlungen derart zäh gelaufen sind, erklärt sich Barnier damit, dass es zum ersten Mal darum gegangen sei, Hindernisse aufzubauen statt aus dem Weg zu räumen – ein Verhandlungsziel, mit dem die Teams erst einmal klarkommen mussten.
Er habe immer gefunden, der Brexit sei eine Scheidung, die man nur bedauern könne, sagte Barnier: „Das ist eine lose-lose-Situation, da gibt es nur Verlierer.“ Aber: Er habe die Verhandlungen auf respektvolle Weise geführt, es sei nie um Rache oder Bestrafung gegangen. Es sei in den letzten viereinhalb Jahren auch nicht bloß um Wirtschaft und Handel gegangen: „Es ging um die Menschen und um Frieden, besonders in Irland.“
Barnier und sein Team sind noch einige Wochen im Einsatz, denn der „Weihnachtsdeal“ ist zwar in Windeseile von den Briten abgesegnet worden, das Europäische Parlament muss ihn aber auch noch ratifizieren und will davor die 1246 Seiten doch einmal lesen und durchdiskutieren. Also schon wieder eine Übergangsfrist: sie endet Ende Februar. Im EU-Parlament tagen derzeit die Ausschüsse, um die Abstimmung über den Brexit-Vertrag vorzubereiten.
Das Interview
Sie haben immer gesagt, die EU hat sehr große Einigkeit gezeigt. Ist der Brexit vielleicht sogar ein Antrieb für mehr Europa?
Michel Barnier: Die Frage wird mir oft gestellt. Es könnte sein, dass in der EU manches einfacher wird, wenn die Briten nicht mehr eingebunden sind, das muss aber nicht zwangsläufig so sein. Meine Überzeugung ist, dass uns der Brexit fundamental schwächt. Es ist immer besser, wenn man etwas gemeinsam macht. Es ist mir klar, dass es Differenzen gibt, aber es wäre besser gewesen, wir wären vereint geblieben. Die EU-27 müssen nun gemeinsam in die Zukunft schauen und es stellt sich nicht mehr die Frage, was wäre, wenn die Briten noch dabei wären. Sie sind es nicht mehr. Die Zukunft ist wichtiger als der Brexit.
Kann es in den nächsten Jahren sein, dass man die Vereinbarungen noch einmal überarbeitet? Könnten die Briten nicht nachverhandeln wollen, wenn sie merken, was alles nicht gut läuft?
Das Vereinigte Königreich hatte in den letzten neun Monaten alle Zeit und jede Möglichkeit, Prioritäten zu setzen. Es gab rote Linien und blaue Linien, sie konnten einbringen, was immer sie wollten. Wir haben einen ambitionierten Vorschlag gemacht; sie haben sich für einen Freihandelsvertrag entschieden. Wir haben, wo es ging, auf Gleichwertigkeit geachtet und versucht die Hauptbedürfnisse herauszufiltern, aber da geht es ja um die Stabilität der Eurozone und des Binnenmarktes – die riskieren wir nach der Krise 2008 ganz sicher nicht noch einmal.
Wir haben in den ersten Tagen schon gesehen, was für Auswirkungen es gibt: Paketzusteller liefern nicht mehr, Händler stehen vor leeren Lagern, den Lkw-Fahrern wird das Schinkensandwich weggenommen. War das so vorgesehen? Kann man sich damit noch beschäftigen?
Seit 1. Jänner sehen wir zwei Problemzonen. Einmal geht es darum, sich an die neuen Regeln zu gewöhnen. Man muss jetzt Formulare ausfüllen, neue Prozeduren einführen usw., das macht allen Schwierigkeiten. An die neuen Regeln wird man sich in ein paar Monaten gewöhnt haben. Aber es sollte über die Auswirkungen niemand überrascht sein. Nahrungsmittel, lebende Tiere, Tierprodukte, Pflanzen – alles muss jetzt auf beiden Seiten überprüft werden. Eine Konsequenz des Brexit ist, dass es jetzt zwei Gebiete mit unterschiedlichen Regeln gibt. Es geht um Gesundheit und Sicherheit der Menschen auf beiden Seiten.
Selbst Musiker sind von den Visabestimmungen nicht ausgenommen, das bringt alle großen Konzerttourneen – auch nach der Pandemie – in Schwierigkeiten.
Ich will nicht beurteilen, wie innerhalb Großbritanniens kommuniziert wird. Es war von Beginn an klar, dass der Brexit Auswirkungen hat. Wir hatten noch im März einige Vorschläge dazu, da wurden auch Künstler, Musiker, Journalisten berücksichtigt. Aber es braucht zwei für eine Vereinbarung.
Wenn es in Zukunft um gemeinsame Schritte geht – schätzen Sie, dass die Briten bei ihrem eigenen Weg bleiben?
Der Brexit ist ein Abnabelungsprozess. Die Briten haben immer gesagt, sie wollen ihre nationale Souveränität zurück; dabei war das ja nie infrage gestellt. Alle EU-Mitglieder sind ja auch souveräne Staaten. Jetzt müssen wir gut aufpassen, dass der faire Wettbewerb bleibt. Wir sehen das etwa beim Einsatz von Pestiziden. Das hat zwei Folgen: Wenn sich die Regeln ändern, dann wissen wir, wie wir reagieren können. Wenn man ohne Zölle und Tarif handeln will, muss man sich an die Vorgaben halten. Wir werden auf allen Ebenen wachsam sein, das ist normal. Die Frage ist, was macht ein Land mit der Autonomität. Pestizide betreffen Bauern, Arbeiter, Konsumenten. Das kann Auswirkungen auf den Wettbewerb haben und auf die Umweltregeln.
Schottland wendet sich demonstrativ der EU zu. Wie schätzen Sie die Entwicklung in Nordirland ein?
Das ist eine ernste, wichtige Frage. Aus diesem Blickwinkel will ich darauf keine Antwort geben. Ich will mich nicht darüber auslassen, was in Großbritannien passieren kann. Die Nordiren müssen selbst darauf antworten, wie sie ihre Zukunft gestalten wollen. Ich habe hohen Respekt vor der politischen Debatte in UK und habe mich als Verhandler da völlig herausgehalten. Was ich sagen kann: Unsere größte Sorge war immer die Lage in Irland, da gab es die höchsten Risiken und die gravierendsten möglichen Konsequenzen. Wegen des Friedensprozesses. Ich bin Irland sehr verbunden, ich fühle da die starken Emotionen der Iren. Am Ende hat die Vernunft gesiegt.
Und wie ist das mit Gibraltar?
Sie fragen nach dem bilateralen Abkommen zwischen Spanien und Großbritannien, das in letzter Sekunde beschlossen wurde. Das war die Voraussetzung, jetzt brauchen wir weitere Verhandlungen zwischen EU und UK. Alle Schengen-Regeln müssen implementiert werden. Die Kommission wird vom Rat mit einem Mandat versehen und kann dann verhandeln, das ist besonders wegen Schengen herausfordernd. Es braucht da viel Sorgfalt.
Schengen gehört zum Themenkreis Sicherheit und Recht…
Wir haben in allen Bereichen versucht, keine Rückschritte zu machen. Wir haben Kooperationsvereinbarungen für acht Bereiche, Europol, Eurojust, Datenaustausch usw. Wir haben Wege gefunden, unsere Interessen zu wahren – etwa Datenschutz für EU-Bürger.
Wenn Sie auf die letzten viereinhalb Jahre zurückblicken: wann haben Sie die Einheit der EU-27 am meisten gefährdet gesehen? Was war der schlimmste Moment?
Ganz offen: Ich hatte nie wirklich Zweifel an der Einigkeit. Als wir 2017 den Rahmen festgelegt hatten, die transparente Vorgangsweise mit den Prioritäten der einzelnen Länder – denken Sie an Transport und Luftfahrt, die acht Länder mit Fischereibetrieb, Gibraltar, Zypern – war von Beginn an das Vertrauen da. Bei den Gesprächen mit Großbritannien gab es viele schwierige Augenblicke. 2018 etwa, als das britische Parlament das Abkommen nicht ratifizierte, das Theresa May ausgehandelt hatte. Dann kam Boris Johnson. Im November 2020, als sich Johnson und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen trafen, sah alles danach aus, als würde es keinen Deal geben. Für mich war der schwierigste Moment das britische Binnenmarktgesetz. Mit der klaren Intention, einen Vertrag zu verletzen, den sie selber unterzeichnet hatten. Danach rückten die EU-27 aber noch mehr zusammen. Und es zeichnete sich ein neuer Präsident in den USA ab, der sich sehr besorgt zeigte. Ich bin froh, dass wir das überwunden haben.
War die deutsche Ratspräsidentschaft maßgeblich? Was hat der Abschied Angela Merkels für Auswirkungen?
Ich bin froh, dass Angela Merkel die Bühne noch nicht verlassen hat. Ich kenne sie seit 1994, damals waren wir beide Umweltminister für unsere Länder. Die deutsche Präsidentschaft hat wesentliche Themen abgeschlossen, vom Budget und dem Wiederaufbauprogramm bis zum Anlauf der Coronamaßnahmen. Was kommt jetzt? Jeder der Staats- und Regierungschefs in der EU hat seine Vorzüge. Was die deutsch-französische Zusammenarbeit angeht, so müssen sie einfach zusammenarbeiten, so wie die anderen 25 auch. So funktioniert das.
Wie haben Sie die britischen Verhandler erlebt?
Sie sind sehr professionell, ich hatte immer viel Respekt. Es waren im Lauf der Zeit nicht immer dieselben Personen am Tisch – auf unserer Seite war immer ich. Vielleicht haben sie manchmal gedacht, das wäre eine übliche Verhandlung, aber sie war etwas Besonderes. Vielleicht war da ein Ansatz drinnen, wie sagt man, auf zwei Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen. Aber die EU-27 waren eins und jeder Versuch des Rosinenpickens ist gescheitert. Das einzige, was ich nicht verstanden habe, waren die Risiken, die sie eingegangen sind, etwa bei Nordirland. Wir waren uns einig, keine Emotionen hineinzubringen, wir bleiben bei den Fakten. So haben wir uns auch aus innenpolitischen britischen Debatten herausgehalten.
Was werden Sie selbst nun machen? Gehen Sie in die französische Politik zurück?
Ich bin zumindest für einige Wochen noch Mitglied der Kommission. Ich habe mich nie als Brüsseler Technokrat gesehen, ich bin Politiker. Deshalb war ich auch zweimal Kommissar, deshalb bin ich auch von Juncker und von der Leyen mit den Brexit-Verhandlungen betraut worden. Es ist keine Überraschung, wenn ich bleiben möchte, was ich bin; mit dem selben Enthusiasmus, als ich mit 29 zum ersten Mal Abgeordneter war. Ich bleibe also in der Politik, ich freue mich, dass ich bald wieder in meinem Heimatland Frankreich sein kann. Ich werde dort zu meiner politischen Familie Les Républicains (LR) zurückkehren.