Genau drei Wochen sind es noch, dann wird aus dem EU-Mitglied Großbritannien endgültig ein „Drittland“. Und noch immer gibt es keinen Vertrag, der die künftigen Beziehungen regelt. Dabei merkt man auf britischer Seite jetzt schon die Folgen: Dieser Tage empörten sich Boulevardblätter darüber, dass das Ende der EU-Reisefreiheit nicht nur für Ausländer, sondern umgekehrt auch für die Briten selbst gilt – sie können nicht mehr so einfach in ihren Ferienhäusern in Spanien überwintern. Und es droht Tausenden ein Weihnachtsabend ohne Geschenke: Die Frachthäfen, über die etwa Spielzeuglieferungen abgewickelt werden, sind jetzt schon völlig überlastet. Schiffe müssen nach Rotterdam umgeleitet werden, weil viele Unternehmen noch vor dem Brexit versuchen, ihre Lager aufzufüllen.
Parallel zum EU-Gipfel brachte die EU-Kommission gestern wichtige Notmaßnahmen für einen „No Deal“ demonstrativ auf den letzten Stand.
Ein Überblick
1 Zumindest bestimmte Flugverbindungen zwischen der EU und Großbritannien bleiben für sechs Monate aufrecht, das gilt auch für Sicherheitszertifikate im Bereich des Flugwesens, damit sie nicht stillgelegt werden müssen. Ähnliches ist vorgesehen für die Abwicklung des Busverkehrs und Frachttransporte, das soll auf Gegenseitigkeit zumindest sechs Monate weiterlaufen.
2 Für das Streitthema Fischerei schlägt Brüssel einen eigenen Rechtsrahmen vor, der ein Jahr gelten soll – oder so lange, bis eine Einigung erzielt ist. Diese Vereinbarung soll den Zugang von britischen Fischkuttern in EU-Gewässer regeln und umgekehrt. Kommission, EU-Parlament und Rat sollen das noch vor dem 1. Jänner 2021 in Kraft setzen.
3 Für den Warenverkehr würden die Regeln und Zollsätze der Welthandelsorganisation WTO gelten. Auf beiden Seiten des Ärmelkanals wird deshalb der Zollapparat ausgebaut – die Last teilt sich auf EU-Seite auf die Meeresanrainer auf, die Briten haben sie allein zu tragen. Beispiel für die Folgen: Dieser Tage erhielten EU-Kunden des britischen Amazon-Ablegers einen Hinweis, dass sich Lieferungen in Zukunft nicht nur verzögern, sondern durch die neuen Abgaben auch empfindlich verteuern würden.
4 Alle laufenden EU-Programme im Grenzgebiet Irlands und Nordirlands sollen aus Stabilitätsgründen weiterlaufen.
5 Insgesamt hat sich die EU-Kommission mit dem Szenario eines Austritts ohne Vertrag in mehr als 100 Einzeltexten befasst und Maßnahmen erarbeitet. Das reicht von „Recyclen von Schiffen“ über den Emissionshandel, Typengenehmigung von Fahrzeugen, Berufsqualifikationen, Datenschutz, Verbraucherschutz und Fluggastrechte, Futtermittel, Düngemittel, Tiertransporte oder Geoblocking bis hin zum Punkt „länderübergreifende Betriebsräte“. Aus Großbritannien ist so etwas nicht bekannt
Die Baustellen der EU
Kaum Kompetenz. Gegeneinander statt miteinander: Im Kampf gegen die Pandemie kann die EU nichts vorschreiben, sondern nur koordinieren. Alleingänge von Mitgliedsländern lassen sich nicht verhindern.
„Green Deal“ und die Wirtschaft. Die Klimaziele gelten den einen als zu ambitioniert, andere, wie das EU-Parlament, würden sie eher noch verschärfen. Einerseits ist klar, dass man etwas tun muss, andererseits stehen riesige Wirtschaftsbereiche wie die Auto- oder Schwerindustrie unter Druck gegenüber dem Ausland. Auch Atomkraft ist ein Streitpunkt.
Sanktionen. EU, Nato und zahlreiche Einzelinteressen: Eine gemeinsame Außenpolitik ist kaum machbar. Einzelne Sanktionen wie gegen Belarus oder nun die Türkei gelten schon als Erfolg.
Budget als Hebel. Immer wieder scheren Länder aus den „europäischen Werten“ aus, die aber auch schwer zu definieren sind. Der Hebel, um Einfluss darauf zu bekommen, ist das EU-Budget.