Die neunte und vorerst letzte Verhandlungsrunde zwischen London und Brüssel ist vorbei und das Ergebnis dieses sonderbaren Sommers bleibt, was es schon war: äußerst dürftig. Zwar konnte man sich an einigen Nebenschauplätzen der Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zumindest annähern, die großen Brocken – Binnenmarkt, Staatsbeihilfen, Irlandfrage, Fischerei, Justiz- und Polizeiwesen, Schlichtungsstellen usw. – sind nach wie vor völlig ungelöst. Das Binnenmarktgesetz, das Premier Boris Johnson durchs Unterhaus gebracht hat, war der letzte Affront; es widerspricht in einer der wichtigsten Fragen dem Austrittsvertrag, den Johnson selbst unterzeichnet hat.
Kommende Woche, am Donnerstag und Freitag, ist der Brexit Hauptthema beim regulären EU-Gipfel der 27 Staats- und Regierungschefs. Im Vorfeld wurde schon eifrig debattiert und videotelefoniert. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach mit Boris Johnson, Ratschef Charles Michel ebenso und reiste danach demonstrativ nach Dublin. Über die Ergebnisse oder den genauen Inhalt der Gespräche wurde nichts bekannt – möglicherweise liegt das daran, dass es Derartiges gar nicht gab. Michel twitterte gewohnt kryptisch, „es ist Zeit für Großbritannien, die Karten auf den Tisch zu legen." Um wie üblich zu ergänzen: „Die EU hätte lieber einen Deal, aber nicht um jeden Preis.“
Am Dienstag tagt der Rat für allgemeine Angelegenheiten in Luxemburg (Österreich wird durch Europaministerin Karoline Edtstadler vertreten), der die Gipfelvorberereitungen finalisiert, und dort wird EU-Chefverhandler Michel Barnier zu Gast sein, um die Mitgliedsländer auf den letzten Stand zu bringen. Bisher war man davon ausgegangen, dass der 31. Oktober der absolut letzte Tag für eine endgültige Einigung sei. Allein aus formalen Gründen: Allfällige Abkommen müssen juristisch einwandfrei übersetzt werden, ein Deal müsste vom EU-Parlament und von allen nationalen Parlamenten ratifiziert werden. Allein das wäre schon eine Extremanforderung – üblicherweise dauern solche Vorgänge ein- bis zwei Jahre. Zum Vergleich: ein „Deal“ mit dem Vereinigten Königreich ist im Grunde weitaus komplexer als der umstrittene Mercosur-Vertrag – und an diesem doktert die EU schon seit 20 Jahren herum und die Begeisterung der Mitgliedstaaten ist immer noch grenzwertig.
Der Zug ist noch nicht abgefahren
Doch aus EU-Kreisen heißt es, noch sei der Zug nicht abgefahren. Selbst wenn der 31. ergebnislos verstreicht, könnten sich Mittel und Wege finden, zumindest das zu retten, was noch zu retten ist. Inzwischen aber bereiten sich beide Seiten auf den „worst case“ vor, also einen Ausstieg ohne Vertrag. Das reicht von harmlosen Änderungen bis zu fundamentalen Folgen. Wer etwa nach Großbritannien reist, wird schon bald zwingend einen Reisepass brauchen (Personalausweis reicht nicht mehr). Komplexe und langwierige Zollabwicklung mit Riesenstaus, eine Grenze in Irland, Zusammenbruch der Fischerei, Ende des Datenaustauschs, Ende der Cabotage (Lkw-Verkehr), Ende der Arzneimittelzulassungen, ungültige Führerscheine, keine Zusammenarbeit in der Terrorbekämpfung, Verlust von Arbeitsberechtigungen des fliegenden Personals und unzählige andere Folgen stehen bevor. Ob der Gipfel in der Sache etwas weiterbringt, wird sich zeigen.