Nie ohne Salt and Vinegar
Hubert Patterer
Jim war mein Gastvater. Er wartete mit seinem kleinen Fiat auf dem großen Parkplatz, wo die österreichischen Sprachschüler aufgeregt aus dem Bus purzelten. Jim arbeitete als Bewährungshelfer in Southampton, las sonntags den „Observer“ und ist Fan der Saints, des Fußballklubs der Stadt. Samstagnachmittag, wenn die Mannschaft mit dem wieseligen Kevin Keegan aufs Feld lief, wickelte mir Jim schon zu Mittag den roten Klubschal um den Hals, packte das Holzstockerl für seinen siebenjährigen Sohn ein und dazu eine Ladung Crisps, salt and vinegar. Es war ein heiliges Ritual und blieb es auch in den Studienjahren, wo ich in den Sommermonaten in einem YMCA-Camp arbeitete. Aus den Besuchen, Tabellenchecks und Geburtstagskarten wurde eine Lebensfreundschaft.
Jim ist über achtzig und dement. Seine kleine Wohnung am Hafen in Southampton, wo einen die Möwen früh morgens aus dem Bett kreischten, hat er aufgeben müssen. Nach einem Sturz blieb er allein mit blutigem Kopf liegen. Er muss wohl ins Heim. Dem letzten weihnachtlichen Telefongespräch vermochte er nicht mehr zu folgen. Jim antwortete auf alle Fragen mit einem liebevollen „Fine, thank you“. Nur einmal, als der Gastschüler aus den 70ern fragte, ob die Saints womöglich Gefahr liefen abzusteigen, stieß er ein empörtes „No!“ aus. Seine neue Welt, in die er sich zurückgezogen hat, öffnete sich, und einen Wimpernschlag lang kehrten wir zurück in unsere alte.
Die besten Dinge im Leben
Maria Schaunitzer
Jeder Dienstag war ein guter Tag. Man musste nur in einem der hippen Lokale in London eines der begehrten „TimeOut“-Magazine ergattern. In der jeweils gerade erschienenen Ausgabe war die Rubrik „Best free things to do“ (die besten Dinge, die man gratis machen kann) wie ein Kompass für unsere Wochenplanung. Wir, das war eine Gruppe junger Au-pairs aus ganz Europa. Mit Zeit, aber kaum Geld in der Tasche.
Die Kompassnadel des „TimeOut“-Magazins zeigte uns den Weg zu kostenlosen Konzerten in oft schwindeligen Spelunken, mit Bands, die oft das erste – und manche wohl auch das letzte – Mal auf der Bühne standen. Oder zu lokalen Kabarettisten und deren ersten Versuchen, Lacher zu erhaschen. Doch immer wieder führten uns die Tipps in eines der unzähligen Museen, die in Großbritannien gratis sind. Wie oft schlenderte ich durch die Hallen der Tate Modern in diesen Monaten. Das zeigte mir, die besten Dinge im Leben kosten oft nicht viel – zumindest in Großbritannien.
Als der Punk (für mich) starb
Thomas Cik
Sch... auf Nationalheiligtümer! Mit dieser Haltung griffen die Sex Pistols und The Clash in den 1970ern zu Gitarren. War „God save the queen, she ain’t no human being“ oder „The phony Beatlemania has bitten the dust“ die frevlerische Zeile? Der Nachgeborene vermag es nicht zu beurteilen, nachgebrüllt haben wir die Zeilen dennoch. Jahrzehnte nach den Originalen mit der Schülerband, da, als die Bands schon Nationalheiligtümer waren.
Jahre später. Recherchen auf den Spuren von Nigel Farage, dem Godfather of Brexit. Abstecher nach Notting Hill, nicht zur blauen Tür, sondern zum Graffito von Clash-Sänger Joe Strummer. Eine Frau in Mamas Alter legt Blumen nieder.
Wiederum Jahre später. Die Sex Pistols auf der Bühne, ich in Reihe eins. Johnny Rotten setzt die Whiskey-Flasche an, gurgelt, spuckt ins Publikum. Pickiger Apfelsaft. Somit ist klar: Um Nationalheiligtum zu sein, sollte man irgendwie tot sein.
Mannwerdung mit „MänJu“
Klaus Höfler
Was war man als Fastmaturant nicht stolz auf sein Dasein als eingefleischter Sturm-Graz-Anhänger und die ekstatisch zelebrierte schwarz-weiße Verhöhnung des roten Stadtrivalen in der Grazer Heimat. Und dann führt einen der Schüleraustausch direkt in ein Jugendzimmer eines dieser geklonten Londoner Reihenhausvororte. Der erste Blick in die Herberge auf Zeit zog einen soghaft hinein in einen Altarraum britischer Fußballreligion. So also geht echter Fankult: Wimpel, Schals, Fotos, Poster, Autogrammkarten, Zeitungsausschnitte, und an der Wand in großen Lettern „Glory Glory Man United“: eine rote Ritushöhle, kunstvoll drapiert zu Ehren der Götter von Old Trafford. Plötzlich wurde klar: Sturm und die Gruabn – das war Pubertätsklimbim. „MänJu“ – das war „for real men“.
Tee hat immer Vorrang
Karin Riess
Er schraubte seine Stimme immer eine Oktave tiefer, wenn Obelix an der Reihe war. „Die spinnen, die Briten!“, stellte mein Vater stellvertretend für den Gallier fest. Und so war ich dann – den Kleinkinderschuhen entwachsen – auch nicht überrascht, dass es so ist. Beispiele gefällig? Die Hauskatze des Premierministers trägt offiziell den Titel „Oberster Mäusejäger des Kabinetts“. Die Briten würden sich anstellen, nur um sich anstellen zu dürfen. Die Antwort auf jede Frage des Lebens lautet: „Have a cup of tea.“ Und seit Urzeiten wird ernsthaft diskutiert, ob der Tee oder die Milch zuerst in die Tasse darf.
Cricket – die Regeln dieses Spiels hat kein Mensch verstanden, der nicht auf dieser Insel geboren ist. Wiederum erschließt sich keinem, der nicht dort das Licht der Welt erblickt hat, warum man im Badezimmer keine Einhandmischer montiert (aus einem Wasserhahn rinnt es brennheiß, aus dem anderen eiskalt) und dafür Spannteppiche verlegt.
Oder dass sogar Beschimpfungen mit dem Wort „sorry“ beginnen. Wie lang ist bitte schön ein Yard? Und: Wie kann man einen Ort ernsthaft „Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch“ nennen? Die eigentliche Frage, die sich für mich daraus ableitet, ist allerdings – warum finde ich so viele britische Schrullen so herzerwärmend skurril? Gut, dann spinne ich eben auch. Die Sache mit dem Tee funktioniert nämlich wirklich. Aber nur, wenn man zuerst den Tee einschenkt.
Vom Geist schottischer Highlander
Uwe Sommersguter
Das Pàrlamaid na h-Alba –der gälische Ausdruck für schottisches Parlament – am Fuße des Arthur’s Seat, des Hausbergs von Edinburgh, ist das Epizentrum der Unabhängigkeitsbestrebungen Schottlands. Unmittelbar neben der prächtigen Residenz der Königin, dem Holyrood Palace, richtet sich der markante Parlamentsbau in Form eines umgedrehten Schiffes trotzig auf. Drinnen, im Plenarsaal, wird jetzt die Schlagzahl Richtung Eigenstaatlichkeit erhöht.
Seit 300 Jahren sind die beiden Völker vereint. Der Brexit könnte nun trennen, was nicht wirklich zusammengehört: Das Land der Clans mit ihren Tartan-Kilts, der Highlands, des Whiskys und der schroffen Felsküsten versprüht auf jedem Quadratkilometer pure Freiheitsliebe. Kaum einer verkörpert diese wie Bonnie Prince Charlie, der mit seiner 5000 Mann starken Highlander-Armee gen London marschierte, aber seinen persönlichen Brexit vollzog und nach Schottland zurückkehrte, wo er 1746 die Schlacht bei Inverness gegen britische Streitkräfte verlor. Mithilfe der hier verehrten Flora MacDonalds flüchtete der glücklose Rebell auf die wildromantische Isle of Skye. Beim nächsten Mal kommt London nicht so billig davon. Die Highlander rüsten sich schon wieder – diesmal friedlich.
London teilt aus
Christian Wetternig
Wenn ich alle paar Monate in der Stadt meines Herzens ankomme, ist dieses Ritual Pflicht: Mit einem breiten Grinsen verharre ich im Gang irgendeiner der 270 Stationen der Londoner U-Bahn. Sauge diese einzigartige Atmosphäre auf. Diese Mischung aus Geschäftigkeit, Zielstrebigkeit und urbaner Lässigkeit. Obwohl sich Hunderte von Menschen gleichzeitig auf die einfahrenden Züge zubewegen – von Hektik keine Spur. Kein Drängeln, kein Granteln. Very british halt. Es ist reine Lebensenergie, die anonym im Bauch der Millionenmetropole inhaliert werden kann. An der Oberfläche schlägt die Stadt dann unbändig mit ihren Gegensätzlichkeiten auf dich ein. Die monarchistische Demut rund um den Buckingham Palace trifft dich ebenso wie die entschleunigende Buntheit am Neal’s Yard, die fast unnatürliche Stille in Little Venice, das ansteckend Quirlige am Camden Market. London teilt mit Widersprüchen aus. Die Stadt trifft damit Seele und Gemüt. Die Schläge werden gerne eingesteckt. Mit breitem Grinsen im Gesicht.
Shakespeare: der Schlimmste
Ute Baumhackl
Die irregulären Verben waren eine Hürde (see-saw-seen, write-wrote-written, wer denkt sich denn so einen Käse aus?). Danach war die Liebe zur englischen Sprache nicht mehr zu bremsen. Weil man – Überraschung! – nämlich schon mit Halbwegs-Englisch Agatha Christie, P. G. Wodehouse, Dorothy L. Sayers im Original halbwegs versteht. Und später: die Brontë-Schwestern, Jane Austen, Jean Rhys, Ali und Zadie Smith, Hanif Kureishi, A. L. Kennedy ...
Um hier das Sprachprotzpfauenrädchen gleich wieder einzufalten: Im Urlauberalltag hilft das alles eh genau nix, angesichts von Dialekten wie Cockney, Brummie, Scouse. Die müsste man alle extra lernen. Schlimmer ist nur Shakespeare: reine Rätselraterei vorm Original. „And, thou away, the very birds are mute.“ – „Und wo du fehlst, der Vögel Lied selbst schweigt.“ Sonett Nr. 97. Man schlägt die zweisprachige Ausgabe auf und findet das Englische gleich noch viel schöner!