Wer heute Vormittag ins EU-Parlament in Straßburg will, muss sich wohl durch eine (angemeldete) Demonstration kämpfen. Aktivistinnen und Aktivisten aus ganz Europa kommen zusammen, um die Abgeordneten dazu zu bringen, letzten Endes doch für das umstrittene Renaturierungsgesetz zu stimmen. Heute findet dazu die Debatte im Plenum statt, morgen ist dann die Abstimmung geplant. Wie berichtet, zielt der Gesetzesvorschlag der EU-Kommission darauf ab, bis 2030 mindestens 20 Prozent der Land- und Meeresflächen der EU sowie bis 2050 alle Ökosysteme, die einer "Renaturierung" bedürfen, wiederherzustellen. Das bedeutet, dass etwa Flussbegradigungen zurückgenommen oder für den Ackerbau trockengelegte Feuchtgebiete wieder "verwässert" werden.
Der EVP geht es zu weit
Während der Rat der EU-Umweltminister das Gesetz im Juni knapp angenommen hat, geht es den rechten Parteien und vor allem für die EVP, der auch die ÖVP angehört, zu weit. Der Vorschlag bedrohe die Ernährungssicherheit und greife in Eigentumsrechte ein, wird argumentiert. Sowohl im Agrar- als auch im Fischereiausschuss war der Plan folglich abgelehnt worden, im (eigentlich zuständigen) Umweltausschuss gab es ein Patt von 44 zu 44 Stimmen. Die EVP hatte vor dem Votum einen Teil ihrer dortigen Abgeordneten gegen Ersatzmitglieder getauscht – meist welche aus dem Agrarbereich. Das Parlament muss nun darüber abstimmen, ob der Vorschlag der Kommission abgelehnt werden soll. Kommt dafür morgen keine Mehrheit zustande, wird noch über die Änderungsanträge der Fraktionen oder von mindestens 36 Abgeordneten abgestimmt.
Experten üben Kritik
Viele Forscher verfolgen die Entwicklung mit wachsender Sorge. In einem offenen Brief, den inzwischen 6000 Wissenschaftler unterzeichnet haben, treten die Fachleute der Kritik der EVP massiv entgegen. "Es geht hier um eine ganz wichtige Entscheidung und die sollte man nicht auf Basis von Fehlinformationen treffen. Genau das erleben wir aber gerade", sagt Guy Pe’er, einer der Initiatoren des Briefs und Wissenschaftler am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung in Leipzig. "Die landwirtschaftliche Produktion wird durch dieses Gesetz nicht bedroht, das Gegenteil stimmt." Die wahre Gefahr für die Ernährungssicherheit sei die fortschreitende Degradierung des Agrarlands in Europa. "Wir befinden uns in einer riesigen Krise und verspielen unsere Versicherung für die Zukunft", so Pe'er in einem Pressegespräch.
"Massives Vollzugsdefizit"
Von einem "Störfeuer der Falschinformationen" spricht auch der Rostocker Agrarökonom Sebastian Lackner. "Es stimmt nicht, dass mit dem Gesetz Neues geschützt werden soll, es soll nur bestehender Schutz richtig vollzogen werden." Fakt sei, dass das seit 20 Jahren praktizierte Modell, den Artenschutz über EU-Richtlinien zu gestalten, nicht funktioniert habe. "Wir haben deshalb beim Naturschutz ein massives Vollzugsdefizit", sagt Lackner. Zudem sei bekannt, dass die Haupttreiber für internationale Verknappungen bei Lebensmitteln der wachsende Hunger nach Fleisch und nach Biokraftstoffen seien, keinesfalls der Schutz von Böden.
Für Franziska Tanneberger, Botanikerin und Moorexpertin an der Uni Greifswald, führt an einer Renaturierung geschädigter Böden kein Weg vorbei. "Von 350.000 Quadratkilometern an Moorböden in der EU ist mehr als die Hälfte für die Landwirtschaft entwässert. Diese Böden setzen jedes Jahr weiteres CO2 frei, es bleibt uns gar keine andere Wahl, als sie wieder zu verwässern." Die Konsequenzen für die Bauern seien gering, zumal eine Bewirtschaftung weiter möglich bleibe. "Die Moore machen nur drei Prozent der Agrarflächen aus, verursachen aber ein Viertel aller agrarischen CO2-Emissionen." Ein Scheitern des Renaturierungsgesetzes wäre aus Sicht der Forscher ein schwerer Rückschlag für die Natur. "Das Problem ist: Wir verlieren immer mehr Zeit, obwohl wir sie nicht mehr haben", sagt Tanneberger.