Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich für eine tiefere Integration der Europäischen Union ausgesprochen. "Nicht weniger, sondern mehr Offenheit, mehr Kooperation sind das Gebot unserer Zeit", sagte Scholz am Dienstag vor dem Europäischen Parlament in Straßburg. Ein europäisches Asylsystem müsse noch vor der Europawahl 2024 verabschiedet werden, sagte er.

Außerdem müssten der gemeinsame Einkauf von Munition und die Integration der europäischen Rüstungsindustrie vorangetrieben werden. In der zweiten europäischen Grundsatzrede seiner Amtszeit plädierte Scholz zudem für eine Erweiterung der EU, die dann über 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger haben könnte. Zudem müsse die EU nun "zügig neue Freihandelsabkommen schließen – mit dem Mercosur, mit Mexiko, mit Indien, Indonesien, Australien, Kenia und perspektivisch mit vielen weiteren Ländern". Nur so könne man verhindern, dass weltweit niedrige Umwelt- und Sozialstandards festgeschrieben würden.

Scholz sprach sich klar gegen Bestrebungen aus, die EU zu einer dritten Supermacht neben den USA und China zu machen. "Wer nostalgisch dem Traum europäischer Weltmacht nachhängt, wer nationale Großmachtfantasien bedient, der steckt in der Vergangenheit", sagte der SPD-Politiker. Was es brauche, sei Partnerschaft, die Augenhöhe nicht nur behaupte, sondern herstelle, sagte Scholz. "Die Welt des 21. Jahrhunderts wird multipolar sein." Für eine EU als globales Machtzentrum neben den USA und China hatte zuletzt unter anderem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron plädiert.

Heftige Kritik durch deutsche Abgeordnete

Wie üblich kamen nach der Rede die Fraktionen zu Wort und ebenso üblich ist es, dass die meisten Redner und Rednerinnen in diesem Fall Deutsche waren – und die europäische Bühne nutzten, um sich kritisch zu äußern, auch über innerdeutsche Themen. Manfred Weber (CSU) etwa kritisierte die zögerlichen Waffenlieferungen an die Ukraine und "Hinterzimmerdeals im Rat". Man brauche jetzt keine Grundsatzreden mehr, es sei hoch an der Zeit für einen Konvent zur Überarbeitung der Verträge. Die Debatte um das Verbrennerverbot habe "viele ratlos gemacht", auch zum Stabilitätspakt höre er wenig aus Berlin – stattdessen sei der "Doppelwumms", das deutsche Wirtschaftspaket, mit der EU nicht abgestimmt gewesen.

Terry Reintke (Grüne) ging noch weiter und warf Scholz vor, "alles laufen zu lassen, statt sich zu positionieren". Der deutsche Kanzler sollte "kämpfen für Europa und vorausgehen", stattdessen gebe er ein Bild ab, das verblasse. Scholz solle sich auch viel deutlicher gegen eine Asylpolitik aussprechen, deren Ziel eine "Festung Europa" sei.

In dieser Tonart ging es weiter, bis dann CDU-Abgeordneter Daniel Caspary sagte: "Merkel hat nicht immer geliefert, aber Scholz liefert immer nicht."

Geopolitische EU

Dabei hatte Scholz in seiner Rede eine "geopolitische" EU gefordert, die einer der Pole in einer multipolaren Welt sein solle. Die USA seien dabei der wichtigste Partner. Man sei aber dann ein besserer Verbündeter, wenn man technologisch souverän werde, mehr für Verteidigung ausgebe, zuverlässigere Lieferketten habe und mehr Unabhängigkeit bei kritischen Rohstoffen. Man müsse die Ukraine "langfristig" unterstützen. "Weil eine prosperierende, demokratische, europäische Ukraine die deutlichste Absage ist an Putins imperiale, revisionistische, völkerrechtswidrige Politik auf unserem Kontinent", betonte er.

China tauchte nur am Rande in seiner Rede auf. Der deutsche Kanzler warnte erneut vor einer Abkoppelung von China, die EU müsse aber ihre Risiken abbauen. Rivalität und Wettbewerb hätten seitens Chinas zugenommen. Die Europäer müssten die Sorgen und "berechtigten Interessen" der neuen Partner im globalen Süden ernst nehmen und gerade deshalb mit Nachdruck für Nahrungsmittelsicherheit und gegen den Klimawandel kämpfen.

Übergang zu Mehrheitsentscheidungen

Die EU-Partner und das Parlament rief Scholz zum einen auf, den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen zu unterstützen, damit die EU durch den Wegfall von Vetos einzelner Staaten handlungsfähiger werde. Außerdem solle man die EU-Kommission darin unterstützen, jedes Mal Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, wenn ein Mitgliedsstaat gegen grundlegende Werte der EU verstoße. Zuletzt hatten Vertragsverletzungsverfahren gegen die nationalkonservativen Regierungen in Polen und Ungarn für Spannungen gesorgt.

Die Erweiterung um die Ukraine, Georgien und Moldau sowie die Westbalkan-Staaten sei auch für die EU wichtig. "Ein geopolitisches Europa misst sich auch daran, ob es seine Versprechen gegenüber seiner unmittelbaren Nachbarschaft einhält", mahnte Scholz.