Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) kam aus Termingründen zu spät fürs Gruppenfoto und die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen kam wegen innenpolitischer Dringlichkeiten gar nicht. Sie wird heute beim EU-Gipfel dabei sein (siehe unten), verpasste in Prag aber möglicherweise einen historischen Augenblick. Einer Initiative des französischen Präsidenten Emanuel Macrons folgend trafen sich die Staats- und Regierungschefs aller europäischen Länder (Dänemark eingerechnet, 44 an der Zahl) in der tschechischen Hauptstadt, um unter dem Titel „Europäische Politische Gemeinschaft“ (EPG) neue Wege der Zusammenarbeit auszuloten. Nicht dabei waren Kleinstaaten wie San Marino oder der Vatikan – sowie Belarus und Russland, denen das ausgesandte Solidaritätssignal in erster Linie gewidmet ist.

Es ging um Annäherung und um den Austausch der Befindlichkeiten; so fand sich sogar die Möglichkeit, dass der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev und der armenische Premierminister Nikol Pashinyan mit Macron und Ratspräsident Charles Michel am selben Tisch miteinander sprachen. Gespräche im kleinen Kreis, mit zwei oder mehr beteiligten Ländern, füllten den Nachmittag und dienten vor allem dem Zweck des Auslotens: Wie weit kann ein Land bei gemeinsamen Entscheidungen mitgehen, wo liegen die Grenzen? Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nahm teil. Man dürfe aber auch die Erwartungen nicht zu hoch ansetzen, warnte Nehammer: Bei Serbien und dem Kosovo etwa bedürfe es vorsichtiger Verhandlungen. Serbien sei „derzeit in einem Schraubstock“ zwischen den guten Beziehungen zu Russland, die innenpolitisch eine große Rolle spielen, und dem Westen, der eine Umsetzung der Sanktionen gegen Moskau verlangt. In solchen Fragen könne die Plattform helfen.

Alle an einem Tisch: Das war auch das Stichwort für Liz Truss, die in Prag einen glänzenden Auftritt hinlegte und wohl auch der Grund dafür war, dass sich letzten Endes rund 1200 Journalisten vor der fantastischen Kulisse der Burg im dichten Gedränge auf die Zehen traten. Für die angeschlagene britische Premierministerin war es eine willkommene Gelegenheit, sich zumindest formal dem Rest Europas anzuschließen – aus Brüssel heißt es mit vorsichtigem Optimismus, die Gespräche zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU seien im Augenblick entspannter als zuletzt.

Ob Zweckgemeinschaft oder neuer Gemeinschaftsgeist: Nach Pandemie, Inflation, Kriegsfolgen und Energiekrise scheint sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass alle in einem Boot sitzen und nur gemeinsam weiterkommen. Das betonte auch der Gastgeber, der tschechische Premier Petr Fiala. Die EPG sei eine Plattform für eine offene Diskussion unter den Ländern und keine neue Organisation. Das Format wirft dennoch die Frage auf, ob nicht etwa Europarat, Inklusiv-Treffen der EU, Nato, OSZE und weitere Organisationen nicht eines Tages zu viel des Guten sind bzw. ob die Suche nach gemeinsamen Nennern dadurch nicht sogar schwieriger wird.

Die Gemeinschaft soll sich auf Vorschlag von Charles Michel beim nächsten Mal in Moldau treffen; danach in Spanien und dann in Großbritannien.