Es war die zweite Mega-Rückholaktion in kurzer Zeit, nur geht es diesmal auf bedrückende Weise stiller zu als beim ersten Mal. Vielleicht erinnert sich ja noch jemand ans Frühjahr 2020, als die ausbrechende Pandemie die ganze Welt zum Stehen brachte. Damals wurden quasi über Nacht die Grenzen in derselben Geschwindigkeit dicht gemacht wie man die internationalen Verkehrsverbindungen lahmlegte; Züge verließen die Bahnhöfe nicht mehr, Busse fuhren nicht und der Flugverkehr kam weltweit zum Erliegen.
Damals ging es darum, gestrandete Europäer aus allen Erdteilen in ihr Heimatland zurückzubringen. Es war die Stunde des UCPM. Über den „Union Civil Protection Mechanism“, zu dem man auf Deutsch auch Zivilschutzmechanismus der EU sagen könnte, wurden insgesamt 408 Flüge organisiert, koordiniert und zum Teil auch bezahlt, jeweils unter Einbindung der einzelnen EU-Länder natürlich. Exakt 100.313 Menschen wurden auf diese Weise sicher nach Hause gebracht, darunter 90.060 EU-Bürger.
Jetzt ist der UCPM wieder aktiv, aber hinter den Kulissen und in deutlich konzentrierterem Rahmen. Die EU hat bisher rund 400 Menschen aus der Hölle von Kabul geholt – Mitarbeiter aus den Institutionen, aber auch ortsansässige Helfer und deren Familien. Die Operationen seien noch im Gang, sagte mir gestern ein Sprecher der Kommission, und die Mitgliedsländer seien eingebunden, die dramatischen und sich ständig verändernden Entwicklungen würden aber bedingen, dass man dazu aktuell keine näheren Angaben machen kann. Kommerzielle Flüge nach Kabul sind ja längst eingestellt, das Sprengstoffattentat am Donnerstag Nachmittag hat jetzt bis auf Weiteres sowieso alles zum Erliegen gebracht. Am UCPM nehmen übrigens nicht nur die EU-Länder teil, auch Island, Norwegen, Montenegro, Serbien, Nordmazedonien und interessanterweise die Türkei sind Partner.
Wie es nun weitergeht, darüber wissen wir inzwischren etwas mehr. Dieser Tage trafen sich ja die G7-Länder zu einem Sondergipfel, bei dem – fast möchte man sagen: wie zu erwarten war – nicht viel herauskam, am Donnerstag sollten die EU-Länder auf Botschafterebene etwas Ordnung ins Afghanistan-Chaos bringen, das ist meistens etwas konstruktiver. Die Sitzung hat den ganzen Nachmittag gedauert; ein wenig ist durchgesickert. Nach wie vor haben die Evakuierungsaktionen Priorität. Ob es gelingt (manche Länder denken immer noch daran, eventuell auch nach dem 31. August, wenn die Amerikaner weg sind, einzelne Operationen durchzuführen) wird sich zeigen. Marschrichtung der EU wird sein, den Kontakt zum Rest der Welt zu intensivieren - Afghanistan hat auf mehreren Ebenen eine enorme geopolitische Dimension, die ebenso wächst wie die allgemeine Ratlosigkeit. Die ganze Geschichte spielt sich ja im Spannungsfeld der Supermächte ab, zwischen USA, Russland und China, einige der Golfstaaten und die Nachbarländer Iran und Pakistan spielen eine Rolle, und dann halt noch die Natoländer – die EU an sich ist an diesem Schauplatz nur Zuschauer, der allerdings einen ordentlichen Preis zu zahlen hat. Stichwort Flüchtlinge und Hilfe vor Ort. Kommenden Dienstag gibt es einen Sonderrat der EU-Innenminister, am Donnerstag und Freitag findet dann das reguläre Treffen der Außenminister statt - in Kranj in Slowenien. Darauf kommen wir später noch einmal zurück.
Wieder einmal geht es darum, Ruhe zu bewahren, besonnen und konstruktiv vorzugehen und Menschlichkeit zu beweisen. Gerade mit Letzterem haben so manche ihre Schwierigkeiten, nicht nur in der Alpenrepublik, die sich gerade im Errichten von Zäunen hervortut statt Notleidenden zu helfen. Immerhin haben wir es geschafft, ein ikonisches Bild im Abstand von mehr als drei Jahrzehnten zu wiederholen und dabei den Kontext komplett ins Gegenteil zu verkehren: Alois Mock (ÖVP), wie er im Juni 1989 den Grenzzaun durchschneidet und Karl Nehammer und Alexander Schallenberg (beide auch ÖVP), wie sie sich im August 2021 über einen neuen Grenzzaun freuen. Dabei dachten wir ja, Österreich sei ein Brückenbauer. Zäune gehen aber leichter als Brücken, keine Frage.
Schwacher Trost: Auch beim Nachbarn haut das mit dem Brückenbauen nicht hin, dabei wär´ das grad so eine Art Auftrag. Die Rede ist von Slowenien, genauer gesagt vom verhaltenskreativen Premierminister Janez Jansa. Der twitterte diese Woche wieder munter vor sich hin und gab bekannt: Es werde keine europäischen „humanitären“ oder Migrations-Korridore für Afghanen geben, ausgenommen seien nur die örtlichen Mitarbeiter der Nato- und EU-Missionen. „Wir werden nicht zulassen, dass sich der strategische Fehler von 2015 wiederholt.“ Welchen Punkt er genau damit ansprach, blieb offen.
Die Sache ist jetzt nur: Slowenien hat derzeit den EU-Ratsvorsitz inne, Jansa sollte laut den Vorgaben eigentlich die politischen Interessen des eigenen Landes nicht in den Vordergrund rücken, vor allem aber als „ehrlicher und neutraler Vermittler“ in der EU auftreten, als „honest broker“. Das klappt offensichtlich nicht so richtig, dabei gehören „europäische Lebensweise und europäische Werte“ zu einem der vier Hauptbereiche der Präsidentschaft. Ist halt doch ein weites Feld. Rat und Kommission pflegen Kommentare von Staatschefs nicht zu kommentieren ("no comment on comments"), das Parlament schon. Präsident David Sassoli, ein Italiener, richtete dem slowenischen Nachbarn aus, was Sache ist: „Es steht der wechselnden Ratspräsidentschaft nicht zu, zu sagen, was die Europäische Union tun wird.“ Gefolgt von der Einladung, die Sache doch ausführlicher im Parlament zu diskutieren. Man darf gespannt sein: Das letzte derartige Gespräch endete mit einem handfesten Eklat.