Ob es am Abend zum offenen Schlagabtausch mit Ungarns Regierungschef Viktor Orban kommt oder sich die Staats- und Regierungschefs nicht schon wieder einen Gipfel durch ein plötzlich ausbrechendes Thema kapern lassen wollen, wird man sehen. Der Fall um das umstrittene ungarische Homosexuellen-Gesetz, das in den Augen eines Großteils der Mitgliedsländer „klar gegen die Werte der EU verstößt“, wird jedenfalls diskutiert, aus Ratskreisen hört man, dass man sich während des abendlichen Dinners gleich heute mit der Sache beschäftigen will. Der reguläre Sommergipfel heute und morgen bietet Stoff für beide Seiten der Medaille: er kann das Augenmerk aufs Positive lenken oder die Schwachstellen in wesentlichen Themen sichtbar machen.
Zunächst geht es jetzt, am Beginn der Ferienzeit und angesichts der Lockerungen und Öffnungen, wohl einmal darum, den Schwung der allgemeinen Stimmungsaufhellung mitzunehmen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel macht quasi nur einen Zwischenstopp auf ihrer Europatournee, auf der sie die ganz großen Scheine unters EU-Volk bringt. Im Juli beginnen die Milliarden des Wiederaufbauprogramms zu fließen – das und das mittlerweile doch sehr gut vorangetriebene Impfprogramm sollen die EU über den Sommer aus der Talsohle bringen, in der sie die Meinungsumfragen zuletzt verortet haben. Die „wirtschaftliche Erholung“ ist jedenfalls am Freitag offizieller Punkt auf der Agenda, die Staats- und Regierungschefs werden sich mit dem Stand der Umsetzung von „NextGenerationEU“ beschäftigen und sich auch mit den Empfehlungen zur Wirtschaftspolitik der Eurozone auseinandersetzen. Unmittelbar vor dem Gipfel mahnte die Katholische Kirche, es müsste dafür gesorgt werden, dass die Mittel die Schwächsten erreichten, um eine „Erholung in zwei Geschwindigkeiten“ zu verhindern.
Auch der Tagesordnungspunkt „Covid-19-Pandemie“, gleich heute Nachmittag angesetzt, taugt zur Aufbruchstimmung. Man wolle sich, so heißt es, „mit allen noch bestehenden Hindernissen im Zusammenhang mit dem Recht auf Freizügigkeit in der EU befassen“. Dabei geht es vor allem darum, dass zwar das digitale Covid-Zertifikat mit 1. Juli mehr oder weniger flächendeckend zum Einsatz kommt, die daraus resultierenden Möglichkeiten aber Ländersache bleiben – mit der ausdrücklichen Übereinkunft, dass im Falle einer dramatischen Entwicklung jederzeit wieder Grenzsperren oder Lockdowns möglich sind. Die Kommission soll im erlauchten Kreis aber noch einmal vor dem Sommer berichten, welche Lehren man bisher aus den Ereignissen gezogen hat. Sicher ist, dass sich der Gipfel auch mit den Mutationen beschäftigen wird und wie man darauf reagieren kann, ohne wieder alles zum Erliegen zu bringen.
Migrationsfrage noch immer ungelöst
Noch vor dem Abendessen soll das heikle Thema Migration wieder auf den Tisch kommen. Auch das steht im Zeichen der Jahreszeit, in erster Linie beschäftigt sich der Gipfel mit den aktuellen Fluchtrouten. Diese Frage geht quasi nahtlos über zur Debatte über die Beziehungen zur Türkei. Man sei um weitere Deeskalation bemüht, heißt es dazu aus dem Rat, und man wird sich mit einem neuen Vorschlag der Kommission auseinandersetzen: bis 2024 könnte die Türkei über den bestehenden Vertrag hinaus weitere 3,5 Milliarden Euro erhalten, um die Unterbringung syrischer Flüchtlinge zu gewährleisten.
Weitere Gespräche soll es auch mit nordafrikanischen Staaten wie Libyen oder Äthiopien geben. Aus dem Rat ist zu hören, dass es „ein Wunsch der Regierungschefs“ sei, mehr Klarheit darüber zu erlangen, was in Zusammenhang mit der Einbindung von Drittländern gerade in Planung ist – Stichwort Dänemark – und in welche Richtung man hier weitergeht. Nicht nur, weil sich die Türkei selbst in ein schiefes Licht gebracht hat, ist zunächst aber mit keiner Entscheidung zu rechnen. Solche Lösungen bedürfen ohnehin auch der Zustimmung durch das Parlament. Die österreichische EU-Abgeordnete Monika Vana (Grüne) sagte gestern, die Flüchtlinge dürften nicht als Waffe oder zur Erpressung instrumentalisiert werden: „Solange die EU-Staats- und Regierungschefs den aus nationalen Eigeninteressen und Rechtspopulismus geknüpften Gordischen Knoten bei der Flüchtlingsaufnahme nicht lösen, bleibt Europa in dieser Frage vom türkischen Regierungschef Erdogan erpressbar.“
Der Umgang mit Russland
Weiterer Punkt beim Abendessen ist Russland. Beim letzten Treffen erhielt Josep Borell, Hoher Außenbeauftragter der Kommission, den Auftrag, einen umfassenden Bericht über die Beziehungen zu Moskau zu erstellen. Besonders nach dem Treffen Putins mit Biden will der Gipfel die Lage evaluieren und darüber nachdenken, wie man mit Russland nun am besten weitermachen kann. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz stellte nach einem Gespräch mit seiner deutschen Amtskollegin Angela Merkel im Vorfeld des Gipfels bereits fest, die EU solle „einen Austausch mit Putin“ anstreben. Wenn es zu Verletzungen der Menschenrechte oder internationalen Rechts komme, solle man durchaus Konsequenzen ziehen; aber die Dialogkanäle müssten offen bleiben.
Wie bei jedem Gipfel, gibt es auch diesmal die eine oder andere Besonderheit. So begrüßt die illustre Runde gleich heute zu Beginn UNO-Generaldirektor António Guterres und erörtert, wie es heißt, geopolitische Themen. Österreich hat sich indessen auch dafür stark gemacht, die nach dem Abbruch der Verhandlungen in arge Schieflage geratenen Beziehungen zur Schweiz unter den Staats- und Regierungschefs noch einmal zu debattieren. Das sei kein formaler Punkt auf der Agenda, heißt es in Brüssel, aber es wird damit gerechnet, dass Sebastian Kurz die Frage aufbringt und dann liege es an der Runde, wie sehr man darauf eingeht.