Am Freitag bin ich wieder im Flieger. Zum ersten Mal seit über einem Jahr dürfen Journalisten wieder „live“ bei einem EU-Gipfel dabei sein und, göttliche Fügung, der ist im sonnigen Portugal. Das Land hat den rotierenden Ratsvorsitz inne. Neulich waren wir ja mit Europaministerin Karoline Edtstadler schon in Lissabon, diesmal geht’s nach Porto zum EU-Sozialgipfel. Portugal hat mich schon Dutzende Male gesehen, in langen Jahren bei der Zeitung haben vor allem Autotests für die Motorredaktion an die Atlantikküste und ins hügelige Hinterland geführt. Ich bin mit allen möglichen Mobilen über die malerischen Straßen gekurvt und mal in Estoril, mal an der Algarve in Portimao (wo letztes Wochenende das Formel-1-Rennen war) oder auch in Porto über die Rennstrecken gebrettert und allein für meinen dergestalt entstandenen CO2-Abdruck werde ich mindestens 1000 Jahre in der Klimahölle schmoren müssen.
Jetzt sind es also nicht Benzinfresser, sondern die hohe Politik. Die Staats- und Regierungschefs wollen beim Sozialthema dort weitermachen, wo sie beim letzten Sozialgipfel in Göteborg aufgehört haben – das war 2017. Höchste Zeit also. Die Kommission hat rechtzeitig heuer im Frühjahr einen Aktionsplan vorgestellt, der nun von den Mitgliedsländern feierlich begrüßt wird: eine Beschäftigungsquote von mindestens 78 Prozent, Fortbildung für mindestens 60 Prozent der Erwachsenen jedes Jahr und die Verringerung der Zahl von Menschen, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind, um mindestens 15 Millionen, das alles bis 2030.
Nicht alle Staats- und Regierungschefs kommen nach Porto. Mindestens eine Person fehlt: Angela Merkel. Das Soziale ist nicht so recht ihr Ding, heißt es in Brüssel, sie habe solche Themen schon öfter einmal geschwänzt. Offiziell ist Corona die Ursache: „Angesichts der Lage in Deutschland und der zahlreichen Restriktionen, unter denen die deutsche Bevölkerung derzeit leben muss“, hat Merkel bei Gastgeber Antonio Costa darum gebeten, „nur“ virtuell am Besprechungstisch zu sitzen. Sie lässt sich also nicht von einem ihrer Amtskollegen vertreten. Die Kanzlerin als Videoeinspielung – irgendwie fällt mir da die Szene aus „Demolition Man“ ein, wo die Oberen auf sich mitdrehenden Videoschirmen um den Besprechungstisch des bösen Dr. Cocteau versammelt sind, die beide (also Bösewicht und Tisch) alsbald einer wilden Kampfszene zum Opfer fallen (der ein wenig unterschätzte ironische SciFi-Kracher mit Sylvester Stallone und Sandra Bullock spielt im Jahr 2032, war somit seiner, aber offensichtlich nicht unserer Zeit voraus).
„Wenn Costa einen Sozialgipfel nicht hinkriegt, dann schafft es keiner“: Einer, der dem sozialistischen portugiesischen Premierminister Antonio Costa solcherart rote Nelken streut, ist EVP-Urgestein Jean-Claude Juncker. Der frühere EU-Kommissionspräsident, dem viele Beobachter zu ihrem eigenen Erstaunen mittlerweile ein wenig nachtrauern, ist nach wie vor ein beliebter Interviewpartner. Dem Portal „Euractiv“ sagte er, die europäischen Führungskräfte hätten einen leichten Hang zur Vergesslichkeit, vor allem, was die eigenen Beschlüsse betrifft. 1997 habe man schon beschlossen, jährlich einen Sozialgipfel abzuhalten. Der nächste war dann der in Göteborg, 20 Jahre später.
Der gute Rat des weisen Mannes: Costa müsse als aktueller Ratsvorsitzender darauf bestehen, dass auf die soziale Agenda der EU tatsächlich nicht nur Lippenbekenntnisse kommen, sondern konkrete Ziele beschlossen werden – etwa für lebenslanges Lernen, gegen Jugendarbeitslosigkeit, für Arbeitsplätze usw. Lauter Dinge, die im Vorschlag der Kommission enthalten sind.
Das sind Themen, bei denen sich die sonst so gern in Zänkereien verlierenden ehrenwerten Staats- und Regierungschefs grundsätzlich eigentlich einig sein müssten. Das Wiederaufbauprogramm, die sprudelnden Milliarden, der Neustart der Wirtschaft – was sonst als so einen Rahmen braucht es noch? Allerdings schaut es nicht nach einem großen Erfolg aus. Der Gipfel ist zweigeteilt, am Freitag sind die Sozialpartner, NGOs und Parlamentarier dran, am Samstag dann die Staatenlenker, die aus dem Beschluss vom Freitag aller Voraussicht nach wieder eine inhaltsleere, schwammige Absichtserklärung machen. Die soll wahrscheinlich bis zum nächsten Sozialgipfel halten, so ca. im Jahr 2041. Da berichten dann schon die News-Roboter, die das bestimmt kostengünstig und effizient erledigen können und mir kommt jetzt gerade vor es wäre wieder einmal Zeit für einen ebenso simpel gestrickten wie hintergründigen Science-Fiction-Kracher aus den Neunzigern.