Am Europatag im Mai startet nun endlich die „Konferenz zur Zukunft Europas“. Die Bürger sollen in die Weiterentwicklung der EU eingebunden werden. Haben diese nicht gerade ganz andere Sorgen?
CHRISTA SCHWENG: Die Krise hat gezeigt, dass wir mehr Europa brauchen. Es geht nun darum, dass man die Bürger abholt und ihnen zuhört und auf Anregungen und Kritik reagiert. Wir dürfen nicht nur mit denen reden, die sich schon lange mit Europa beschäftigen, sondern müssen auch in entfernte Winkel gehen.
Was passiert dann?
Die Idee ist, dass Kommission, Rat und Parlament bis zum Ende der Legislaturperiode Zeit haben, das umzusetzen – bis hin zu einer Vertragsveränderung. Aber man muss auch erklären, warum man etwas macht und was nicht.
Aber schon bisher macht doch die Kommission immer wieder Bürgerkonsultationen. Da machen dann nur die mit, die sich über etwas ärgern, und es kann eine Schieflage herauskommen, wie bei der Abschaffung der Zeitumstellung.
Wir sind in einer schwierigen Situation wegen der Pandemie. Man muss gerade deswegen auch die einbinden, die nicht laut schreien. Der EWSA vertritt die organisierte Zivilgesellschaft und kann ein Kanalisationsinstrument sein und Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Organisationen der Zivilgesellschaft zur Meinungsbildung abholen. Aber Sie haben recht: Antworten erfolgen oft aus einer Stimmung heraus.
Im „Green Deal“ ist Digitalisierung zentrales Thema. Müssen wir befürchten, dass jene Arbeitnehmer, die da mithalten können, die anderen immer weiter abhängen?
Man muss diese Gefahr sehen und etwas dagegen tun. Das geht nur mit mehr Bildung und Qualifikation. Die Idee hinter dem NextGeneration-Plan ist, wir wollen aus der Krise heraus und einige Herausforderungen stemmen. Digitalisierung ist ein Punkt, Umwelt ein anderer, und wir haben eine demografische Herausforderung. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass die Arbeitsplätze nicht auf den Bäumen wachsen. Sie können nur durch eine gesunde Wirtschaft entstehen. Da schließt sich der Kreis: wenn Bildung mit den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts zusammenpasst. Dann können wir auch der Ansage der Kommission gerecht werden – dass bei diesem Übergang niemand zurückgelassen wird.
Wird es nicht trotzdem eine große Gruppe Menschen geben, die das nicht schaffen? Der Lagerarbeiter, der durch einen Regalroboter ersetzt wird, wird sich nicht zum IT-Spezialisten umschulen lassen.
Es gibt andere Möglichkeiten, etwa persönliche bzw. wirtschaftsnahe Dienstleistungen, das wird zunehmen. Es ist ja nicht der erste Wandel, den wir erleben. Der Gaslaternenanzünder hat auch mit dem elektrischen Licht gehadert. Die Frage ist: Was können wir den Menschen anbieten?
Können wir jetzt schon genauer abschätzen, welche Auswirkungen Corona in den nächsten paar Jahren haben wird?
Sie fragen mich nach einer Kristallkugel. Wir arbeiten an vorausschauenden Strategien mit Schätzungen.
Reicht die Höhe des Recoveryfonds aus?
Es ist wichtig, dass das Geld vernünftig eingesetzt wird, da kommt es auf die Mitgliedsstaaten an. Geht es nur um das Stopfen von Budgetlöchern oder arbeiten sie wirklich am digitalen und grünen Übergang? Es geht darum, das Geld zukunftsorientiert zu investieren.
In der EU wird schon lange über Mindestlöhne und soziale Mindeststandards gesprochen, aber es gibt immer noch ein enormes Gefälle. Wenn wir jetzt sowieso an einer Neuordnung arbeiten, wäre das auch der richtige Zeitpunkt, auch soziale Fragen ins Spiel zu bringen – oder genau verkehrt, weil Wirtschaft und Arbeitsmarkt gerade schwer unter Druck sind?
Die Wahrheit liegt in der Mitte. Als EWSA-Präsidentin verweise ich darauf, dass wir Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Angehörige der sonstigen Zivilgesellschaft als Mitglieder haben. Wir haben uns schon zweimal mit dem Thema Mindestlohn beschäftigt und halten es für wichtig, dass man die Autonomie der Sozialpartner respektiert, dass man die Wettbewerbsfähigkeit im Auge behält und Mindestlöhne anhand nationaler Gegebenheiten festgelegt werden.
Wo liegen die Probleme?
Kann in Mitgliedsländern, die keine Mindestlöhne haben oder nur eine schwache Beteiligung der Sozialpartner, und ebenso in jenen, die eine starke Beteiligung haben, in die Autonomie eingegriffen werden? Als Österreicherin darf ich sagen, dass wir weltweit die höchste kollektivvertragliche Abdeckung haben, sie liegt bei 98 Prozent. Die Richtlinie zielt auf 70 Prozent ab. Sie nennt als Maßstab für die Angemessenheit von Löhnen beispielhaft aber auch 60 Prozent des Bruttomedianeinkommens. Das ist in Bulgarien zum Leben zu wenig, in Österreich stünde das der Beschäftigung von jungen bzw. ungelernten Arbeitskräften entgegen, was in der aktuellen Situation kontraproduktiv wäre – man muss das in Relation sehen. Ein starker sozialer Dialog und Tarifverhandlungen sind ein wesentliches Element.
Zuletzt gab es Diskussionen bei der Agrarreform, ob man EU-Förderungen an die Einhaltung sozialer Mindeststandards knüpfen soll. Österreich und viele andere Länder lehnen den Vorschlag ab. Steht es der EU überhaupt zu, in solchen Fragen alle auf einen Nenner bringen zu wollen?
Entscheidend ist, dass Standards, die es gibt, eingehalten werden. Das muss durchsetzbar sein. Über das Instrument dazu kann man diskutieren. Es muss einklagbar und durchsetzbar sein. Das ist nicht nur eine Frage des Arbeitnehmerschutzes, sondern auch eine Frage des fairen Wettbewerbs.
In der EU gibt es seit einiger Zeit Störungen der alten Balance. Die Briten sind weg, Merkel geht, es formen sich je nach Interesse immer neue Gruppen – Visegrád-Staaten, die Frugalen, zuletzt die Impfstoffnachzügler. Ist das Aufbrechen alter Krusten gut? Oder bringt das Instabilität in die EU?
Es ist normal, dass man sich in Sachfragen unterschiedliche Konstellationen sucht, das war bisher schon so. Wir haben bereits ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Wir haben den Schengenraum, wir haben die Wirtschafts- und Währungsunion. Es zeigt sich, dass man gemeinsam mehr erreicht denn als einzelner Nationalstaat. Das ist eine Lehre aus der Diskussion. Es gibt den gemeinsamen Wunsch, die EU weiterzubringen.
Führt das nicht doch dazu, dass erfolgreiche Länder die anderen abhängen? Die Nachzügler bei den Impfstoffen kamen vor allem aus dem Osten.
Im EU-Vertrag ist zum Beispiel verankert, dass sich neun Länder zusammenschließen können, um eine bestimmte Regelung zu beschließen. Das ist nichts Schlechtes.
Aber es gibt immer mehr einzelne Länder, die ausscheren und das gemeinsame Europa brüchig wirken lassen. Man hat den Eindruck, es kommt zu einer spürbaren Veränderung.
Letzten Sommer haben wir gesehen, was geht: gemeinsame Impfstoffbeschaffung, Investitionen in Forschung und Entwicklung. Das ist ein klares Zeichen, dass wir an einem Strang ziehen können und die Bewältigung exogener Schocks gemeinsam wesentlich leichter ist als für einen einzelnen Mitgliedsstaat. Covid hat das Potenzial, als gemeinsamer Gegner die EU zu einen, gleichzeitig bewirkt es eine Erosion unserer Gesellschaft. Es gibt unterschiedliche Betroffenheit, eine angespannte Lage am Arbeitsmarkt. Da werden nationalistische und populistische Strömungen befeuert, das ist gefährlich. Wenn man den Aufbauplan gut einsetzt, kann das den Menschen vermitteln: Das alles geht, weil es die EU gibt.
Wenn die Pandemie halbwegs überstanden ist, wird die EU vielleicht sogar einen neuen Aufschwung erleben? Mehr Kompetenzen in Gesundheitsfragen bekommen?
Ja. Eine europäische Gesundheitsunion steht hoch oben auf der Agenda, das hat auch das jüngste Eurobarometer gezeigt.
Europa ist für den Rest der Welt schwer zu fassen. Nehmen Sie „Sofagate“ – müsste man das Wechselspiel der Institutionen nicht auch reformieren? Würden Sie sich wünschen, dass es einen klar erkennbaren Repräsentanten für die Union gibt?
Bei der Zukunftskonferenz soll es keine Denkverbote geben. Die Frage ist, was kommt am Ende heraus. Jetzt haben wir ein gewisses Gleichgewicht zwischen Parlament, Rat und Kommission. Die Frage, ob man diese Balance aufheben soll, muss man diskutieren. Im Moment habe ich das Gefühl, das funktioniert. Man muss vielleicht besser erklären, wie die EU funktioniert.