Den ganzen Nachmittag lang berieten die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder über die Impfstoffverteilung. Die Details dazu sollen nun von den EU-Botschafterinnen und -Botschaftern geklärt werden. Eine Lösung soll auf Basis des Bevölkerungsanteils der EU-Staaten und durch die Auslieferungsgeschwindigkeit bei der Verteilung von zehn Millionen zusätzlichen Dosen von Biontech und Pfizer gefunden werden, hieß es am Donnerstag in Ratskreisen.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat vor Beginn des virtuellen EU-Gipfels am Donnerstag betont, das Hauptthema der Staats- und Regierungschefs werde die Pandemie-Bekämpfung sein. "Wenn die Impfstoffverteilung kein Thema für einen Gipfel sein soll, was dann?", erklärte der Bundeskanzler. Auch sei es völlig unverständlich, dass die EU 70 Millionen Dosen von Corona-Impfstoffen in alle Teile der Welt exportiere, selber aber keine Impfstoffe von außerhalb der EU erhalte.

"Das ist ein massives Missverhältnis", sagte Kurz. Er unterstütze daher Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrem Ziel hier gegenzusteuern und sich für Exportkontrollen einzusetzen. Am Gipfel selbst gab es dann nach heftigen Debatten aber einen Kompromissvorschlag in der Impfstoffverteilung, der auch in die Schlussfolgerungen einfloss: Nun sollen die EU-Botschafter den Konflikt lösen und nicht der Lenkungsausschuss, dessen Ko-Vorsitzender Clemens Martin Auer sich wegen der Causa zurückziehen musste. Die EU-Botschafter sind gegenüber ihren Hauptstädten weisungsgebunden und müssten einstimmig entscheiden. 

Bei der Bekämpfung der Pandemie müsse das Motto gelten, "koste es, was es wolle", betonte Kurz. Die Diskussion, dass es in Österreich eine finanzielle Beschränkung von 200 Millionen Euro für die Beschaffung von Impfstoffen gebe, sei daher "absurd". Bisher habe man 80 Millionen Euro ausgegeben und 30 Millionen Dosen bestellt, das Problem liege in der Verzögerung der Auslieferungen, so Kurz.

77 Millionen Dosen aus der EU exportiert

EU-Ratspräsident Charles Michel wollte einen Streit über die von Österreich und anderen Ländern geforderte Neuverteilung von Corona-Impfstoffen in der EU beim EU-Gipfel vermeiden. In einer Expertengruppe wurde daher am Mittwochabend und Donnerstagfrüh noch versucht, den Streit beizulegen - offenbar vergeblich.

Von den knapp 450 Millionen EU-Bürgern sind unterdessen inzwischen 62 Millionen mindestens einmal gegen Corona geimpft. 18,2 Mio. Menschen haben auch ihre zweite Dosis bekommen. Die Zahlen legte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen am Donnerstag zum EU-Gipfel vor. Die EU-Staaten erhielten von den Pharmakonzernen bisher rund 88 Millionen Impfdosen. Zugleich gingen seit 1. Dezember 77 Millionen Dosen aus der EU in den Export.

Dichte Agenda am Gipfel

Der reguläre Frühjahrsgipfel der EU hat heute und morgen eine dichte Agenda. Viel mehr als um die einzelnen Streitpunkte geht es aber um eine Standortbestimmung und um die Frage gemeinsamer Perspektiven. Dem Vernehmen nach möchte Ratspräsident Charles Michel kleinkrämerischen Streit (etwa um einzelne Impfstofflieferungen) auf dem höchstrangigen Treffen vermeiden. Doch stehen sehr viele Punkte zur Klärung an.

Die Impfkampagne der EU gegen das Coronavirus gewinnt nur mühsam an Fahrt. Die EU-Staats- und Regierungschefs beraten heute beim Video-Gipfel erneut über Möglichkeiten, diese zu beschleunigen. Die Wünsche der 27 Mitgliedstaaten gehen dabei aber nicht immer in dieselbe Richtung. Ein Überblick:

Exportkontrollen

Wegen großer Lieferverzögerungen liegt die EU seit Jänner mit dem britisch-schwedischen Hersteller AstraZeneca im Clinch. In der Folge schrieb Brüssel vor, dass die Hersteller Ausfuhren genehmigen lassen müssen. Seitdem wurde zwar nur eine von Hunderten Lieferungen nicht erlaubt. Klar ist aber inzwischen, dass ein großer Teil der in der EU produzierten Corona-Impfstoffe exportiert wird. Größter Abnehmer ist Großbritannien. Zurück kommt von dort aber so gut wie nichts.

Am Mittwoch beschloss die Kommission deshalb eine deutliche Verschärfung der Exportkontrollen. Ausfuhrsperren sind nun auch möglich, wenn das Zielland selbst Impfstoff produziert, aber nicht exportiert, und wenn die Impfrate dort über der in der EU liegt - beides trifft auf Großbritannien zu. Länder wie Deutschland warnen aber vor Exportverboten, da dies zu Vergeltungsaktionen in den internationalen Lieferketten für Vorprodukte für Impfstoffe führen könnte.

Neuverteilung der Impfdosen in der EU

Mitte März hatte Österreich gemeinsam mit fünf weiteren EU-Ländern einen "Korrekturmechanismus" gefordert, weil sie sich bei der Impfstoffvergabe benachteiligt sehen. Neben Österreich beschwerten sich Tschechien, Slowenien, Bulgarien, Kroatien und Lettland. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schlug daraufhin vor, zehn Millionen Dosen des Impfstoffs von Biontech/Pfizer, die nun vorgezogen im zweiten Quartal geliefert werden, für einen Ausgleich zu nutzen.

Bisher konnte von den Mitgliedstaaten aber keine Einigung erzielt werden. Deutschland schlug vor, nur drei der zehn Millionen Dosen einzusetzen, um die fünf Länder außer Österreich besser zu stellen. In EU-Kreisen heißt es zur Begründung, Wien stehe bei der Zuteilung im Vergleich zu den anderen Staaten gar nicht so schlecht da. Kurz sieht sich aber über den Tisch gezogen und will die Frage nun zum Gipfelthema machen.

Sputnik V

Bisher hat die EU 2,6 Milliarden Impfdosen bei sechs Herstellern geordert. Deutschland verlangt nun auch eine Bestellung des russischen Vakzins Sputnik V über die EU. Berlin forderte die EU-Kommission am Mittwoch auf, dazu "zeitnah" Gespräche aufzunehmen. Hintergrund ist die jüngste Bemerkung des aus Frankreich stammenden EU-Kommissars Thierry Breton, dass man das Sputnik-Vakzin nicht brauche.

In der EU ist Sputnik V noch nicht zugelassen. Die EU-Arzneimittelbehörde (EMA) hat aber ein sogenanntes rollierendes Verfahren zur Zulassung gestartet. Berlin verweist jedoch darauf, dass auch bei den anderen Impfstoffen Verträge vor der Zulassung geschlossen wurden.

Auf Basis nationalen Vorgehens nutzen zumindest Ungarn, die Slowakei, Tschechien sowie Italien den russischen Impfstoff bereits oder wollen ihn nutzen. Auch Österreich hatte mehrere Kontakte mit Russland, bei denen es um eine mögliche Lieferung des russischen Corona-Impfstoffs und eine etwaige Produktion in Österreich ging. Voraussetzung für Lieferungen nach Österreich sei aber eine EU-Zulassung, betonte Bundeskanzler Kurz immer.

EU-einheitlicher Impfausweis

Griechenland, Österreich und andere stark vom Tourismus abhängige Länder wollen mit einem Impfpass nach israelischem Vorbild die Sommersaison retten. Andere EU-Länder wie Belgien, Frankreich oder Deutschland, sehen einen Impfpass als Voraussetzung für Reisen aber skeptisch, weil bisher erst wenige Menschen in Europa geimpft sind und damit Privilegien für Geimpfte entstehen könnten.

Die Kommission versuchte vergangene Woche den Spagat und machte einen Vorschlag für ein "digitales grünes Impfzertifikat". Es soll Reisen erleichtern, ohne die Freizügigkeit von nicht Geimpften einzuschränken - und dafür auch Testergebnisse und Angaben über eine überstandene Corona-Erkrankung enthalten. Für Reisende könnten dadurch Test- oder Quarantänepflichten entfallen. Der Streit um die mit dem Ausweis verbundenen Rechte schwelt aber weiter. Das digitale Dokument soll auch erst im Juni fertig sein.

Einigkeit bei Türkei

Einigkeit konnte bezüglich der Türkei erzielt werden. So wurden die Schlussfolgerungen zur Türkei angenommen. Dies teilte der Sprecher von Ratspräsident Charles Michel am Donnerstagabend auf Twitter mit. Darin werden der Türkei konkrete Belohnungen für eine weitere Deeskalation des Erdgasstreits im östlichen Mittelmeer in Aussicht gestellt, etwa eine Ausweitung der Zollunion und Visafreiheit für Türken in der EU. Eine Entscheidung darüber soll allerdings erst beim nächsten EU-Gipfel im Juni getroffen werden. In der Gipfelerklärung wird auch die Menschenrechtssituation in der Türkei angesprochen, die ein "zentrales Anliegen" der EU bleibe.

Außenpolitik

Am Abend wurde der amerikanische Präsident Joe Biden in die Videokonferenz zugeschaltet, derzeit hält sich auch US-Außenminister Anthony Blinken in Brüssel auf - weitere Zeichen der Entspannung der unter Donald Trump sehr gereizten Beziehungen zwischen den Kontinenten.