Die Niederlande haben gewählt. Der rechtsliberale Premier Mark Rutte steht vor einer weiteren Amtszeit. Doch drohen langwierige Koalitionsgespräche im Vielparteien-Parlament. Das wird künftig noch bunter. Die proeuropäische Partei Volt dürfte erstmals in Europa ein nationales Parlament einziehen, die Generation Erasmus erobert die politische Bühne. Auch die linksliberale Partei D66 mit ihrer Spitzenkandidatin Sigrid Kaag punktete mit weltoffenen Themen: Klima und Europa. Eine Wahl und viele Überraschungen, ein Blick auf die Tendenzen:

Der Premier: Der rechtsliberale Mark Rutte, 54, steht vor einer weiteren Amtszeit. Seit 2010 regiert er in den Niederlanden. Das eine Mal ließ er sich von Geert Wilders dulden, das andere Mal koalierte er mit Sozial-, bzw. mit Christdemokraten. Alle gingen aus dem Bündnis geschwächt hervor, Ruttes rechtsliberale VVD indes stieg zur stärksten politischen Kraft auf.

In dieser Wahl propagierte er den starken Staat. Ungewöhnlich für einen Liberalen. Holland ist oft Vorreiter gesellschaftlicher Trends. „Wir erleben einen Linksruck ohne linke Parteien“, so der niederländische Politologe René Cuperus. Auch Rechte können mit linken Themen punkten. Rutte hat es vorgemacht. Nur einer war bislang länger Premier im Land. Christdemokrat Ruud Lubbers regierte von 1982 bis 1994. Rutte sucht seinen Platz im Geschichtsbuch.

Buntes Plenum: Schon im letzten Parlament saßen 15 Gruppierungen. Der Grund für die Vielfalt: Es gibt keine Sperrklausel im Land, 0,67 Prozent reichen für einen Sitz im Parlament. Versplintering – Zersplitterung  - heißt das Phänomen. So ist im Plenum die Migrantenpartei Denk vertreten und die Tierrechtspartei. Nun klopft Volt an die Parlemntstür. Das zeigt: Neue Kräfte können nicht nur Protest, es geht auch konstruktiv. Der Trend zu Ein-Themen-Parteien steht für die Individualisierung der Gesellschaft. Die Zeit der Volkspartei scheint vorbei. Nicht nur in Holland. Die sind für die politische Vielfalt besser gerüstet: Kompromiss gilt in Holland als Tugend, nicht als Problem.

Die Koalition: Das neue Regierungsbündnis ist nach diesem komplizierten Ausgang offen. Schon 2017 zogen sich die Koalitionsgespräche 225 Tage hin. Auch dieses Mal dürfte es dauern. Die Christdemokraten von Finanzminister Wobke Hoekstra bieten sich als Partner an, auch Entwicklungshilfeministerin Sigrid Kaag, deren linksliberale Partei D66 zulegte. Beide werden als potenzielle Erben Ruttes gehandelt. Wenn der mal geht…

Wunderkind: Der Grüne Jesse Klaver, 34, war die Überraschung bei der letzten Wahl. Der Aufwärtstrend setzte sich dieses Mal nicht fort. Viele Wähler zogen weiter zu Volt und D66. Die Enttäuschten mochten Klaver nicht verzeihen, dass er 2017 eine Koalition mit Rutte ablehnte. Die Wähler wollen, dass Parteien Verantwortung übernehmen.

Rechtsaußen: Geert Wilders, 57, war einmal Mitglied von Ruttes Partei VVD. Seit 2006 ist er Chef und einziges Mitglied seiner Partei PVV. Antimuslimisch, Antieuropäisch – Wilders gilt als Vorreiter der neuen Rechten in Europa. 2010 schien er am Ziel, Rutte bot ihm Zusammenarbeit an, 2012 zog sich Wilders zurück, er mochte Ruttes Sparkurs nicht mitgehen. „Sie sind weggerannt“, so Rutte klagend.  Im Spiel der Parteien ist Wilders seither isoliert, bei Wählern aber weiter erfolgreich. Rechtsaußen etabliert sich im politischen System. Das hat Folgen. „Bei einer neuen Flüchtlingskrise riegeln wir die Grenzen ab“, so Rutte. So klingt der neue Ton in der Migrationspolitik – nicht nur in Holland.

Ganz Rechtsaußen: Thierry Baudet, 38, ist der Frontmann des „Forum für Demokratie“. Der Mann aus bestem Hause gibt gern den Intellektuellen, in seinem Abgeordnetenbüro steht ein Flügel. Doch mit der Intellektualisierung der rechten Szene ist weit hin. Nach einem Führungsstreit in seiner Partei zeigt sich Baudet offen antisemitisch und rechtsextrem. Rechtsaußen radikalisiert sich.

Neue Koordinaten: Rechts und links – so einfach ist die klassische Verortung im politischen Koordinatensystem. Das ist längst zu eindimensional. Auch hierzulande. Sahra Wagenknecht ist gegen das Kapital – und gegen Zuwanderung. Der sozioökonomische Status ist nicht alles, der kulturelle Sein bestimmt das Bewusstsein. Von Milieus sprechen Wahlforscher, der Soziologe Andreas Reckwitz von der „Gesellschaft der Singularitäten“. So wird das Rechts-Links-Schema ergänzt: Neben sozioökonomische treten kulturelle Faktoren. Rutte ist kulturell konservativ. Und sozioökonomisch? Vielleicht weniger links als orientiert am starken Staat. Das passt zum klassischen rechtsliberalen Bild der Ordnung.