Aufs Timing wird meistens sehr genau geachtet in der EU, so ist auch diese Punktlandung zu verstehen: 24 Stunden vor dem heute angesetzten feierlichen Start der „Konferenz zur Zukunft Europas“ veröffentlichten Kommission und Parlament das Ergebnis einer Eurobarometer-Sonderumfrage. Eine überragende Mehrheit in den Mitgliedsstaaten (92 Prozent) stimmten demnach zu, dass die Stimmen der Bürgerinnen und Bürger bei Entscheidungen über die Zukunft Europas stärker berücksichtigt werden sollen. Sechs von zehn Befragten gaben an, dass die Corona-Pandemie für sie ein Anlass gewesen ist, sich über die Zukunft der EU Gedanken zu machen – das ist der Punkt, auf den die Zukunftskonferenz abzielt: eine stärkere Einbindung der Bevölkerung, eine öffentliche Debatte und gegebenenfalls als Folge auch einen Eingriff in die europäischen Verträge.
Etwas mehr als die Hälfte der Europäer möchte sich der Umfrage zufolge selbst aktiv einbringen, wobei die Befragten in Irland mit 81 Prozent am meisten Engagement zeigen. Die EU wird in Österreich von 36 Prozent der Befragten positiv wahrgenommen, von 42 Prozent neutral und von 21 Prozent negativ. Am höchsten ist die Zustimmung zur EU in Irland mit 74 Prozent. Am anderen Ende der Skala steht die Slowakei, wo die EU nur von 34 Prozent positiv gesehen wird.
Heute Mittag unterschrieben Ursula von der Leyen, David Sassoli und Antonio Costa (für das Ratsvorsitzland Portugal) feierlich die gemeinsame Erklärung, da liegt bereits ein weiter, anstrengender Weg hinter ihnen. Ursprünglich hätte das Projekt schon vor einem Jahr starten sollen, mit Tamtam und Trara und vielen Veranstaltungen in den Mitgliedsländern. Dann kam Corona und alles musste verschoben werden. Die Zeit nutzte man hinlänglich für Scharmützel aller Art. Das EU-Parlament hatte den streitbaren Liberalen Guy Verhofstadt, einst belgischer Premier, als Vorsitzenden positioniert, das stieß auf Widerstand in manchen Mitgliedsländern. Schließlich einigte man sich auf den Dreier-Vorsitz und dazu noch einen Exekutivausschuss, in den jede der drei EU-Institutionen jeweils drei Vertreter entsenden kann. Einer davon ist EVP-Fraktionschef Manfred Weber. Er sehe bereits viele Bedenken von Seiten des Rates, sagte Weber gestern vor Journalisten: „Manche Mitgliedstaaten scheinen sich richtig zu fürchten vor einer Diskussion um die Zukunft Europas.“ Weber hat bereits mehrere Punkte auf seiner Arbeitsliste; dazu gehören der Aufbau eine „wirklich demokratischen Europa“, die Gesundheitsunion als Schlüsselprojekt und die Stärkung Europas in den Außenbeziehungen.
Bürgerbeteiligung am Projekt EU
Doch wofür das alles? EU-Abgeordneter Othmar Karas (ÖVP), Vizepräsident des EU-Parlaments, sieht einen nötigen Wandel der EU vom „Bürgerprojekt zu einem echten Bürgerbeteiligungsprojekt“. Die EU sollte demokratischer und handlungsfähiger werden, das Themenspektrum ist breit gefächert: Demokratie, Rolle Europas in der Welt, Soziales und Gesundheit, Handlungsfähigkeit, Innovationen, Wettbewerbsfähigkeit, Wirtschaft, Umwelt und Arbeit. Das EU-Parlament, habe die Umfrage ergeben, solle in den Augen von zwei Dritteln der Bevölkerung eine wichtigere Rolle spielen. Das sei ein klarer Auftrag: "Keine Entscheidung ohne Bürgerinnen und Bürger, keine Entscheidung ohne das Parlament." Das umschließe auch die Abschaffung der Einstimmigkeit und eine europäische Volksbefragung zu den Reformen. Dass es in der Frage nach stärkerer Beteiligung des Parlaments einen signifikanten Zuwachs gebe - allein seit den EU-Wahlen 2019 plus fünf Prozent - sei keine Folge der Pandemie, sondern entspreche einer kontinuierlichen Entwicklung, die 2010 begonnen habe. Karas weiter: "71 Prozent der Bürgerinnen und Bürger befürworten die Union grundsätzlich; 27 Prozent so, wie sie ist, 44 Prozent verlangen dazu aber Reformen." Das sei ein klarer Auftrag für die Zukunftskonferenz. Dass eine stärkere Einbindung der Bevölkerung einhergehen könnte mit einer wachsenden Tendenz zu populistischen Entscheidungen - nach dem Motto: wer am lautesten schreit, setzt sich durch - glaubt Karas nicht: "Salopp gesagt: Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben. Die gemeinsame Erarbeitung von Lösungen reduziert vielmehr den Nationalpopulismus." Man müsse sich davor nicht fürchten, die Grundstimmung sei positiv. ÖVP-EU-Abgeordneter Lukas Mandl sagte, das „EU-Parlament ist eine ständige Konferenz der Zukunft“. Ebenso wie Delegationsleiterin Angelika Winzig hat Mandl in seinem Umfeld bereits mit Initiativen begonnen.
Die EU-Abgeordnete Claudia Gamon (Neos) beurteilt die Konferenz etwas skeptischer: „Wir sollten hart dafür arbeiten, dass es nicht nur eine Showkonferenz wird.“ Es fehle aber nach wie vor die Information, wie das genau funktionieren soll. „Selbst Bürgerbeteiligung in kleinem Rahmen ist schwierig, das kennen wir alle; umso schwieriger ist das in der EU-Größenordnung.“ Man habe ein ganzes Planungsjahr verstreichen lassen; andererseits könnte es die letzte Chance für lange Zeit sein, aus dem Ansinnen etwas Sinnvolles zu machen.
Befürchtungen hegt auch Monika Vana (Grüne): „Wir wollen eine breite Beteiligung, die in konkrete Empfehlungen für konkrete Maßnahmen mündet – aber das ganze soll nicht ein Gruß ans Salzamt werden.“ Die Zukunftskonferenz war ursprünglich auf zwei Jahre konzipiert, nun ist, durch die Verzögerung, bloß noch eines übrig. Vana: „Wir glauben nicht daran, dass das jetzt nur ein Jahr läuft. So ein Modell mit Bürgerbeteiligung und Vertragsänderungen aufzustellen scheint mir ein Ding der Unmöglichkeit.“ Allein die Frage, ob etwa die EU in der Gesundheitspolitik mehr Kompetenzen bekommen soll, sei in einem Jahr nicht zu schaffen.
Auch Christoph Leitl, Präsident der Europäischen Bewegung Österreichs (EBÖ) und der Europäischen Wirtschaftskammer "Eurochambres", hält ein Jahr für zu kurz. Zuerst gelte es, Ideen, Erwartungen und Hoffnungen der Bürger zu sammeln. „Die Frage, ob man Verträge ändert, kann man am Schluss stellen.“ Eine allgemeine Diskussion zu EU-Vertragsänderungen wäre „sinnlos und vielleicht sogar gefährlich". Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) hatte vor Kurzem betont, sie sei von Anfang an für die Möglichkeit von EU-Vertragsänderungen eingetreten, sei aber in der Zwischenzeit eine "Realistin" diesbezüglich geworden, so dass der Ausgang für sie offen sei.
Europa mit Kompetenzen ausstatten
Andreas Schieder, EU-Abgeordneter der SPÖ, bewertet den formalen Start der Konferenz positiv, verweist aber im selben Atemzug auf die ernüchternde Anlaufphase: „Man hat endlich nach monatelangen Verzögerungstaktiken der Mitgliedsländer einen Weg gefunden, loszulegen.“ Der Start alleine hätte schon gezeigt, wie schwer es ist, zu tragfähigen Ergebnissen zu kommen. Es müssten nun echte Bürgerbeteiligung und Reformkompetenz entstehen, „sonst hat das keinen Sinn.“ Man habe schon rund um die letzte EU-Wahl gesehen, wo es Bedarf nach Reformen gebe: „Es geht um die Abkehr vom reinen Mitgliedsstaaten-Prinzip hin zum Spitzenkandidatenmodell, weg von den intransparenten Hinterzimmer-Deals. Der Vertrauensschaden hat sich auch während der Coronakrise verstärkt, die Kommission schleppt das jetzt mit wie einen Mühlstein um den Hals.“ Die Konferenz solle keine „kosmetische Veranstaltung“ sein. Es brauche echte Zusagen beim Klimaschutz und für eine Sozialunion. Man müsse Europa mit den nötigen Kompetenzen ausstatten: „Um es zynisch zu sagen: Für all das, wofür Europa jetzt beschimpft wird, sollte es dann doch auch zuständig gemacht werden.“ Blockierer würden auch in „der einen oder anderen Staatskanzlei“ sitzen.
Wirklich losgehen soll das ambitionierte Bürgerbeteiligungsprojekt am 9. Mai, dem Europatag, der geplante Abschluss wäre dann für Frühjahr 2022, während der französischen Ratspräsidentschaft, geplant.