Nicht alles geht per Video, für manche Dinge muss man sich Aug´ in Aug´ gegenübersitzen. Die EU-Außenminister, Kraft ihres Amtes ohnehin viel unterwegs, trafen sich deshalb heute zu einem „physischen“ Rat in Brüssel. Unter anderem ging es um Myanmar, vor allem aber um Sanktionen gegen mehrere Länder. Im Fall von Venezuela ist das nicht so schwierig: Einreisesperren und blockierte Vermögenswerte für 19 weitere Personen, die dem Umfeld von Präsident Nicolás Maduro zugerechnet werden, sind schnell beschlossen. Venezuela ist weit weg, das Land wirtschaftlich schwer angeschlagen.
Im Fall von Russland ist das anders. Zwar lässt sich innerhalb der EU durchaus eine Übereinstimmung darüber ausmachen, dass der „Fall Nawalny“ weitere Sanktionen erforderlich machte, über die Intensität der Maßnahmen herrscht geteilte Meinung. Länder wie baltischen Staaten oder Polen wollen eher den diplomatischen Bihänder auspacken, andere mahnen zur Vorsicht – man könne sich zwar nicht alles gefallen lassen, dürfe aber den Dialog nicht außer Acht lassen.
Der Vorgang ist bereits Routine: Der Außenministerrat gibt grünes Licht für weitere Sanktionen, es wird also demnächst durch den Auswärtigen Dienst eine neue Namensliste erstellt. Die Rede ist von vier (!) Personen. Stimmen die Mitgliedsländer letzten Endes zu, wovon auszugehen ist, werden demnächst also wieder einige Russen nicht in die EU reisen dürfen und, so vorhanden, auf dort gebunkerte Gelder nicht zugreifen können. Zwar soll diese Maßnahme durchaus Personen treffen, die mit der Verfolgung Nawalnys zu tun haben. Die Frage aber ist: wie treffsicher sind solche Sanktionen? Was ist mit den mächtigen Strippenziehern, mit Putin-treuen Oligarchen zum Beispiel? Hier ist die Suppe, sprich Beweislage für Verflechtungen, zu dünn. Und die Gefahr, auch für die EU selbst Schaden anzurichten, zu groß - bildhaft gesprochen: ein provozierter Auffahrunfall, der mit einem Peitschenschlagsyndrom für den Verursacher endet.
Wirtschaftssanktionen stehen deshalb derzeit nicht auf der Agenda, dafür hat gestern auch Eurochambres-Präsident Christoph Leitl in einem Gastkommentar für die Kleine Zeitung plädiert: „Wirtschaft“, so schrieb er, „hat den Menschen zu dienen und soll nicht als Waffe gegen sie eingesetzt werden“. Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) sieht das auch so: Der „Welt am Sonntag“ sagte er, Österreich unterstütze die Sanktionen, die Liste der davon betroffenen Personen solle aber „politisch smart und rechtlich wasserdicht“ sein: „Sonst sägen wir am eigenen Ast.“
Moskau reagiert gereizt
Aber bringt das dann überhaupt etwas? Wirkungslos sind die Sanktionen nicht, das erkennt man unter anderem an der aufgebrachten Reaktion Moskaus. Schon vor dem heutigen Ministertreffen gingen beim russischen EU-Botschafter Wladimir Tschischow die Warnlichter an: „Ich möchte nicht darüber spekulieren, ob unsere Partner in der EU eine neue Runde illegitimer einseitiger restriktiver Maßnahmen gegen mein Land einleiten werden. Wenn und falls das passiert, werden wir vorbereit sein zu antworten", drohte er. Die Ausweisung von drei EU-Diplomaten während des eher missglückten Besuchs des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell vor zwei Wochen ist ebenso zu werten: wenn es Putin egal wäre, was die EU macht, würde er gar nicht reagieren.
In Brüssel sieht man den kommenden Wochen auch deshalb mit wachem Interesse entgegen, weil die nun auf den Weg gebrachten Maßnahmen erstmals in Zusammenhang mit dem erst im Dezember verabschiedeten neuen Sanktionsregime gegen Menschenrechtsverletzungen zu sehen sind. Möglich sind Strafmaßnahmen bei Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter, Sklaverei, außergerichtlichen Hinrichtungen, dem Verschwindenlassen von Menschen und willkürlichen Festnahmen. Wenn sie "weit verbreitet" oder "systematisch" sind, können auch Menschenhandel, geschlechtsspezifische Gewalt, die Verletzung des Versammlungsrechts oder des Rechts auf Meinungs- oder Religionsfreiheit geahndet werden. Neu daran ist, dass solche Sanktionen auch außerhalb der davor nötigen Gründe verhängt werden können, also abseits ausgewiesener Konfliktsituationen wie etwa der Ukraine-Krise. Eigene Strafmöglichkeiten gibt es inzwischen auch beim Einsatz von Chemiewaffen oder Fällen von Cybercrime.
Der Haken daran, wenn man so will: Solche Beschlüsse können nicht einfach aus politischem Kalkül getroffen werden, sie müssen auch juristisch wasserdicht sein und somit dem Europäischen Gerichtshof standhalten. Was in der EU selbst als Stärke ausweisbar ist – nämlich, dass man sich in aller Konsequenz an die Regeln der Rechtsstaatlichkeit hält – ist in den Augen Putins wohl eine Schwäche, die er genüsslich ausnutzt. Und zwar auf allen Ebenen, die sich gerade eben mal anbieten. Am Beispiel Pandemie: Dazu gehört etwa das bildwirksame, aber im Grunde keineswegs hilfreiche Entsenden militärischer Gerätschaften in das zu Beginn extrem betroffene Italien, dazu gehört auch das gönnerhafte, aber in allen Details zu hinterfragende Angebot, doch „Sputnik V“ zu nutzen. Da spielt es keine Rolle, dass bis heute kein entsprechender Antrag bei der EMA eingegangen ist - und diese im Zuge des Prüfverfahrens auch die Produktionsstätten kontrollieren müsste.
Russland versteht es wie kaum ein Land, Keile in die EU zu treiben. Umgekehrt ist das nicht die Art, mit der Brüssel agiert. Dabei könnte die EU es durchaus einmal versuchen: mit einer aktiveren Politik in Belarus zum Beispiel. Nicht einzelne Sanktionen sind es, die Putin fürchten muss – sondern ein Kippen der Stimmung in der russischen Bevölkerung, die längst nicht mehr so leicht auf Kurs zu halten ist, wie früher einmal.