Der französische EU-Chefunterhändler Michel Barnier unterrichtet heute die Vertreter der EU-Mitgliedstaaten über die mit Großbritannien erzielte Einigung auf ein Handelsabkommen für die Zeit nach dem Brexit. Der deutsche EU-Vorsitz berief für 10.30 Uhr eine außerordentliche Sitzung der EU-Botschafter ein. In Großbritannien muss das Parlament zustimmen, das dazu am 30. Dezember aus den Winterferien zurückgerufen wird.
Die EU-Mitgliedstaaten würden die 1246 Seiten des Abkommens nun prüfen und "diese gewaltige Aufgabe in den kommenden Tagen fortsetzen", schrieb ein Sprecher der EU-Ratspräsidentschaft auf Twitter. Da auf EU-Seite nicht mehr genügend Zeit für eine Ratifizierung des Deals bleibt, können die Bestimmungen zunächst nur vorläufig angewendet werden.
Auf EU-Seite müssen zumindest die Regierungen aller 27 Mitgliedstaaten das Verhandlungsergebnis billigen. Angestrebt wird ein vorläufiges Inkrafttreten des Abkommens zum 1. Jänner, wenn Großbritannien auch den EU-Binnenmarkt und die Zollunion verlassen hat. Die Ratifizierung durch das Europaparlament soll dann Anfang 2021 im Nachhinein erfolgen. Die Einigung wurde am Donnerstag nur wenige Tage vor Ablauf der Frist erzielt. Ohne Abkommen hätte ein chaotischer Austritt mit gravierenden Folgen für die Wirtschaft gedroht.
Handel ohne Zölle und Mengenbeschränkung
Die Vereinbarung sieht nach dem Austritt Großbritanniens aus dem EU-Binnenmarkt zum Jahresende weiter einen Handel ohne Zölle und ohne mengenmäßige Beschränkungen vor. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen lobte die Vereinbarung als "fair" und "ausgewogen". Der britische Premierminister Boris Johnson sprach von einem "guten Abkommen". Aus zahlreichen EU-Ländern kamen positive Reaktionen. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) begrüßte die Einigung, betonte aber, man werde die Vereinbarung nun sorgfältig prüfen.
Die Unterhändler einigten sich auch beim zentralen Streitthema Fischfang. Das Abkommen sieht eine Übergangszeit von fünfeinhalb Jahren für die Kürzung der Fangquoten für EU-Fischer vor. Laut EU-Vertretern wurde mit Großbritannien in dieser Zeit eine Verringerung der Fangmengen um 25 Prozent vereinbart. Ab Juni 2026 solle dann jährlich erneut über die Fangquoten verhandelt werden.
Solide Basis
Von der Leyen sagte, das Abkommen könne "eine solide Basis" für die künftigen Beziehungen zum Vereinigten Königreich sein. Es garantiere faire Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen auf beiden Seiten und sehe auch Zusammenarbeit in Bereichen wie Klimapolitik, Energie oder Verkehr vor.
Johnson versicherte, sein Land werde Freund, Verbündeter und "wichtigster Markt" der EU-Staaten bleiben. Großbritannien bleibe ein "vertrauenswürdiger Partner", sagte auch von der Leyen. Sie forderte gleichzeitig die EU-Bürger auf, viereinhalb Jahre nach dem Brexit-Referendum in die Zukunft zu schauen. "Es ist Zeit, den Brexit hinter uns zu lassen", sagte sie.
Erleichterung in der EU
Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte, die Einigung sei "von historischer Bedeutung". Die deutsche Bundesregierung werde den Abkommenstext nun intensiv prüfen. Es werde rasch klar sein, "ob Deutschland das heutige Verhandlungsergebnis unterstützen kann. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir hier ein gutes Resultat vorliegen haben", erklärte Merkel.
Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron erklärte, "Einigkeit und Stärke" der EU hätten sich ausgezahlt. Irlands Regierungschef Michael Martin sprach von einem "guten Kompromiss".
Britisches Parlament stimmt am 30. ab
In Großbritannien muss auch das Parlament die Einigung absegnen. Dafür sollen die Abgeordneten bereits am 30. Dezember zusammenkommen. Die oppositionelle Labour-Partei signalisierte noch am Donnerstag ihre Zustimmung. Das EU-Parlament dagegen will nach Angaben seines Präsidenten David Sassoli mit einer Entscheidung indes bis Anfang nächsten Jahres warten. Durch die "Dauer der Verhandlungen" und die "kurz vor knapp" getroffene Einigung sei eine genaue Prüfung des Vertrags durch die Abgeordneten bis Jahresende nicht möglich, erklärte Sassoli.
Die EU-Kommission will deshalb vorschlagen, das Abkommen bis Ende Februar zunächst vorläufig anzuwenden. Es könnte dann Anfang 2021 im Nachgang vom EU-Parlament ratifiziert werden. Auch die deutsche Bundesregierung will unbedingt ein vorläufiges Inkrafttreten erreichen. "Wir wollen als Ratspräsidentschaft alles tun, damit das Abkommen rechtzeitig zum 1.1.2021 vorläufig in Kraft treten kann", erklärte der deutsche Außenminister Heiko Maas.
Lob aus Österreich
Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) begrüßte die Einigung via Twitter. "Wir werden die Vereinbarung nun sorgfältig prüfen. Insbesondere möchte ich @vonderleyen und @MichelBarnier für ihre unermüdlichen Bemühungen danken", hieß es dort. Auch Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) dankte Barnier und twitterte: "Ich begrüße den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen EU-GB. Das Abkommen wird die Grundlage für eine starke und nachhaltige zukünftige Partnerschaft bilden."
Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) ließ umgehend in einer Aussendung wissen: "Ich begrüße den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich. Das Abkommen ist eine solide Grundlage für eine starke Partnerschaft der Zukunft."
Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck (ÖVP) meinte: "Ich bin froh, dass in letzter Sekunde noch eine Einigung zwischen der Europäischen Union und Großbritannien gelungen ist. Damit konnte größerer Schaden für unsere Wirtschaft abgewendet werden. Funktionierende Handelsbeziehungen brauchen funktionierende Partnerschaften auf Augenhöhe.
Opposition insgesamt zufrieden
SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner teilte mit: "Es gibt natürlich in erster Linie Erleichterung über die Einigung. Die Schlechteste aller Optionen wäre ein harter Brexit gewesen. Ein No-Deal hätte viel Schaden verursacht - für die Bevölkerung und die Wirtschaft der EU und des Vereinigten Königreiches. Gut, dass der britische Premier seinen Populismus beendet und im Finale der Verhandlungen Zugeständnisse gemacht hat. Demokratiepolitisch ist der Vorgang jedoch kritisch zu sehen. Hier wird in letzter Minute ein 2000 Seiten dickes Vertragswerk über einen Handelspakt durch die Institutionen gepeitscht. Die Sozialdemokratie wird sehr genau darauf achten, welche sozialen und umweltpolitischen Folgen dieser Deal nach sich zieht."
Der ÖVP-Europaabgeordnete Othmar Karas schrieb auf Twitter: "Den #NoDealBrexit konnten @vonderleyen & @MichelBarnier abwenden. Das Handelsabkommen, das es vor der Abstimmung im EU-Parlament genau zu prüfen gilt, kann aber nicht alle Wunden heilen, die der #Brexit hinterlässt."
SPÖ-EU-Delegationsleiter Andreas Schieder ließ wissen: "Schlussendlich hat sich die Vernunft durchgesetzt. Diese Lastminute-Einigung auf ein Post-Brexit-Handelsabkommen verhindert einen GAU, von dem wir durch die Lkw-Kolonnen der letzten Tage einen Vorgeschmack bekommen haben. Das "Chaos der letzten Tage und die viel zu späte Einigung" seien alleine die Schuld Johnsons. "Er hat bis zuletzt an seinem verantwortungslosen Kurs festgehalten."
Monika Vana, Delegationsleiterin der österreichischen Grünen im Europaparlament, erklärte: "Der Brexit kennt keine Gewinner. Dass sich die EU in den langen Verhandlungen mit Großbritannien nicht hat spalten lassen, ist das einzige positive Resümee dieser Brexit-Verhandlungen. (...) Die vom Brexit betroffenen ArbeitnehmerInnen und Regionen mit EU-Mitteln zu unterstützen, ist Ausdruck gelebter europäischer Solidarität."
Wirtschaft erleichtert
Als eine "Nachricht, die in der österreichischen Wirtschaft für Erleichterung sorgt" sah Mariana Kühnel, stellvertretende Generalsekretärin der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ), das nach langen und harten Verhandlungen vereinbarte Abkommen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich.
Damit sei sichergestellt, dass es nach Ende der Übergangsphase am 31.12., während der die Briten trotz Brexit den EU-Regeln unterliegen, halbwegs geordnete Verhältnisse statt Chaos in den Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Ländern der EU und Großbritannien gibt. "Zumindest gibt es Klarheit und Planungssicherheit. Die Betriebe wissen, woran sie sind", so Kühnel.