Im ersten Halbjahr war Kroatien dran. Die halbjährlich wechselnde EU-Ratspräsidentschaft schien im Jänner noch zu laufen wie immer: das Mittelmeerland setzte seinen Schwerpunkt auf die EU-Erweiterung, für Mai war ein netter Westbalkan-Gipfel in Zagreb geplant. Zur Lösung der beiden großen Fragen des Jahres, eigentlich der letzten Jahre, gab es wenig Ambitionen – um langjährigen Finanzrahmen und Brexit sollten sich dann die Deutschen kümmern, die im zweiten Halbjahr dran waren.
Dann kam Corona.Und plötzlich war alles ganz anders, als geplant. Der Gipfel fand ebenso wie alle lange vorbereiteten Ratstreffen nur noch virtuell statt, der Westbalkan geriet angesichts der Pandemie zur Nebensächlichkeit. Grenzen wurden abgeriegelt, in Norditalien gingen die Särge aus, die ersten Lockdowns wurden verhängt. Bis zum Sommer lag die Welt von einst in Trümmern.
Genau in dieser Zeit übernahm Deutschland am selben Tag den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat und den Ratsvorsitz in der EU. Die Lage hatte sich bis dahin zwar leicht entspannt, aber der chaotische Beginn innerhalb der EU und die Aussicht auf weitere Katastrophen lösten eine extreme Erwartungshaltung aus. Dass zufällig genau jetzt die Deutschen an der Reihe waren, ließ Hoffnung aufkeimen. Und in der Tat konnte die Langzeitkanzlerin Angela Merkel, die im kommenden Jahr ihre Karriere in der Politik beenden will, ihre Möglichkeiten ausspielen.
Was gelungen ist
Schon der Juli begann mit einem Kraftakt, der als „historisches Ereignis“ in den EU-Geschichtsbüchern Einzug halten wird. Vier Tage und vier Nächte lang rangen die Staats- und Regierungschefs um das künftige Budget – und um das damit verknüpfte Corona-Wiederaufbauprogramm, dessen Grundzüge von Merkel und Emmanuel Macron stammen. Sie hatten ein 500-Milliarden-Euro-Paket vorgeschlagen, das von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (ebenfalls Deutsche und wie Merkel von der CDU) kühn auf 750 Milliarden erhöht worden war. Die Achse Frankreich – Deutschland: sie hatte davor funktioniert und war wieder sichtbar, durchaus nicht von jedem mit Wohlwollen betrachtet. Eine der Folgen dieses Zusammenspiels der Mächtigen war die Entstehung der Gruppe der „frugalen Vier“ mit den Niederlanden und Österreich an der Spitze, die ebenso wie die Visegrad-Gruppe gemeinsam eine stärkere Stimme erlangten. Der Ausstieg der Briten und die Notlage der Italiener hat die Achsen verschoben.
Merkel, die als Ratsvorsitzende die Interessen ihres eigenen Landes zurückstellen und vielmehr als Moderatorin tätig sein muss, konnte damals die aufmüpfigen Ungarn und Polen überzeugen und es gelang ihr auch zum Jahresende hin noch, das später eingelegte Veto gegen die Rechtsstaatsklausel mit einem für Brüssel typischen Kompromiss abzubiegen.
Der zweite große Erfolg, den sich Deutschland auf seine Fahnen heften kann, ist die Verschärfung der Klimaziele. Ausgerechnet unter Vorsitz jenes Landes, zu dessen Assets die Autoindustrie gehört, einigten sich die Staats- und Regierungschefs auf tief greifende Ziele, deren Auswirkungen die nächsten Jahrzehnte prägen werden und unmittelbar mit dem Wiederaufbauprogramm „NextGenerationEU“ bzw. dem „Green Deal“ Ursula von der Leyens verknüpft sind.
Und dann wäre da noch der Brexit. Das Thema, an dem sich schon ein halbes Dutzend Vorsitzländer die Zähne ausgebissen hat, kommt nun zu einem natürlichen Ende. Die EU hat zwar in Michel Barnier einen hervorragenden Verhandler und die Gespräche werden in erster Linie von Kommission und Parlament bestimmt, das eigentliche Kunststück besteht aber darin, die 27 Mitgliedsländer vereint zu halten und alle Versuche der Briten, Keile ins Gemenge zu treiben, zu vereiteln. Auch das kann man Merkel zuschreiben: dass sie nicht leicht von der Bahn abweicht und das große Ganze im Auge behält.
Was nicht gelungen ist
Nicola Beer, Vizepräsidentin des EU-Parlaments (Liberale), meint, dass die Pandemie dazu beigetragen habe, die Ziele rascher zu erreichen. Doch Merkel hätte mehr in die Zukunft blicken sollen: „Am Beginn der Präsidentschaft ging es um die Zukunft der EU, etwa bei Migration oder Geopolitik, aber wir haben nichts davon gesehen.“ Tatsächlich hätte schon im Mai die „Konferenz für Europa“ beginnen sollen, als Basis für ein umfangreiches Reformwerk – bis heute ist da nicht viel passiert. Auch die Zusammenarbeit mit Drittländern sei nicht weitergekommen.
Tatsächlich hätte einer der Höhepunkte der Präsidentschaft ein großer China-Gipfel in Leipzig sein sollen, stattdessen gab es eine eher schmale China-Konferenz per Video. Die Beziehungen der EU zu den USA, die in der Amtszeit Donald Trumps in gröbere Schieflage gerieten, können auch erst im kommenden Jahr neu aufgesetzt werden.
Nicht weitergekommen ist die EU unter deutschem Vorsitz bei der Migrationsfrage. Einziger Fortschritt ist das Asylpaket, das die Kommission im September vorlegte. Von einer Dublin- oder Schengen-Reform ist man aber meilenweit entfernt, selbst aus brennenden Themen wie die entsetzliche Lage in den Flüchtlingscamps auf den griechischen Inseln hielt sich Merkel eher fern und überließ das Feld anderen, etwa Innenminister Horst Seehofer. Aufnahme, Verteilung und Rückführung von Flüchtlingen werden noch längere Zeit zu Streit und stark divergierenden Antworten der EU-Mitgliedsländer führen.
Mittlerweile ist die Pandemie auch „Chefsache“ im Rat, die EU-Länder auf gemeinsame Nenner zu bringen ist aber offensichtlich auch im Kreis der Staats- und Regierungschefs keine einfache Sache – zu sehr unterscheiden sich die Interessen und Ausgangslagen voneinander.
Merkel ist nicht die große Visionärin, aber sie kann Krise. Deutschland und die EU werden es nicht leicht haben, ihren Abgang zu verschmerzen.