Als der Gipfel gestern Abend so vorbei war, wie er begonnen hatte – nämlich ohne jeden Fortschritt im Streit um das blockierte Super-Budget – versuchte die deutsche Kanzlerin, wenigstens den Zeitdruck herauszunehmen: „Es ist schon ein ernsthaftes Problem, das wir zu lösen haben“, sprach Angela Merkel, „da stehen wir aber noch ganz am Anfang“. Man habe nun die Pflicht, zu versuchen, einen Weg zu finden.
Das ist eine Kunst Merkels: selbst dann, wenn einem scheinbar die ganze Welt um die Ohren fliegt, Ruhe zu bewahren und den Boden der feinen Diplomatie nicht zu verlassen. Die Blockade des mehrjährigen Finanzrahmens und des daran gekoppelten Wiederaufbaufonds durch Ungarn und Polen, neuerdings auch angefeuert von den Slowenen, hat die EU in eine ausweglos erscheinende Lage gebracht – wie kommt man da unbeschädigt wieder heraus? Gestern beim Sondergipfel, der eigentlich ausschließlich der Corona-Krisenbewältigung gelten hätte sollen, kam der Streit gleich zu Beginn aufs Tapet. Die Akteure legten noch einmal ihre Karten auf den Tisch, das war es auch schon. Das Thema sei einfach zu heikel, als dass man es so nebenbei in einer Videokonferenz abfertigen könne, sagte Ratspräsident Charles Michel nach dem Treffen. Für einen richtigen Showdown braucht es schon physische Anwesenheit – der Dezembergipfel könnte deshalb doch in dieser Form wieder abgehalten werden.
Kompromisse, so lautet eine der Erfahrungen des gestrigen Tages, habe man im Grunde schon reichlich gemacht. Das sagte etwa EVP-Fraktionschef Manfred Weber in einem Vorgespräch zum Gipfel und wies darauf hin, dass der ursprüngliche Vorschlag der Kommission zum Entscheidungsprocedere bei künftigen Rechtsstaatbeanstandungen deutlich schärfer gewesen sei, als die nun beschlossene Vorgangsweise (eine qualifizierte Mehrheit im Rat ist nötig, um ein Verfahren zu starten). Merkel will nun zwar weiterhin alle Möglichkeiten ausloten, aber eine große Gruppe der Mitgliedsländer, angeführt vom Niederländer Mark Rutte, will auf klarer Kante bleiben.
Auch Österreich gegen weitere Kompromisse
Auch Österreich gehört dazu. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hielt an "Reformen und Rechtsstaatlichkeit" als "Basis" für die Auszahlung von EU-Mitteln fest. „Jetzt wird in der EU sehr viel Steuergeld in einem noch nie da gewesenen Ausmaß in Anspruch genommen. Es wird aber nur dann europäisches Geld fließen, wenn Reformen durchgeführt werden und die Rechtsstaatlichkeit eingehalten wird", stellte er klar und sprach sich gegen Kompromisse und für eine genaue Kontrolle aus, "wofür das Geld in weiterer Folge ausgegeben wird".
Die EU kann beim Kern des Themas nicht mehr nachgeben, ohne damit einen Selbstzerstörungsmechanismus in Gang zu setzen. Hier heißt es hart bleiben, so wie beim Brexit. Orban und Mateusz Morawiecki können aber auch nicht einfach zurückstecken jetzt und warum sollten sie auch? Allerdings scheint ihr Plan, Spanien und Italien könnten durch die Verzögerung der Finanzspritzen so unter Druck sein, dass sie den Verzicht auf die Rechtsstaatsklausel als geringeres Übel sehen würden, nicht aufzugehen.
Manche meinen ja, es würde den beiden Veto-Ländern gar nicht um die Klausel an sich gehen, sondern eher um eine Machtdemonstration für die Zukunft: sieh her, EU, so leicht ist es beim Einstimmigkeitsprinzip, jede einzelne Entscheidung zu Fall zu bringen – so mächtig sind wir, wenn wir wollen.
Was bleibt also? Eine Variante ist, man kauft den beiden renitenten Ländern ihr Veto hab. Was immer sie wollen (Beendigung der Artikel-7-Verfahren, Ausnahmen beim Umstieg auf den Green Deal, Bevorzugung in künftigen Migrationsszenarien) – die Liste ist lang. Eine zweite Variante, die immer öfter genannt wird und für die es auch schon Bespiele aus der Vergangenheit gibt: die 25 anderen Länder ziehen die Sache mit dem Wiederaufbaufonds alleine durch und regeln den Ablauf über bilaterale Abkommen – Polen und Ungarn würden durch die Finger schauen. Das würde allerdings den Graben, der sich ohnehin schon durch Europa zieht, weiter aufreißen. Fast skurril mutet die Überlegung an, dass der Streitpunkt an sich, nämlich die Verknüpfung des Budgets mit der Rechtsstaatlichkeit, eben schon beschlossen ist. Man könnte also am 1. Jänner schon damit anfangen und den renitenten Ländern gleich einmal auf die Zehen steigen.
Doch durch Brexit und vor allem Corona ist die Gesamtsituation schon schwierig genug, da kann sich niemand so wirklich mit dem Gedanken an weitere Eskalation anfreunden. Das weiß man auch in Budapest und in Warschau.
Der gestrige Gipfel, er war nie vorgesehen für eine Lösung und hat bestenfalls bewirkt, dass die Streithähne weiterhin miteinander im Gespräch bleiben. Der echte Showdown kommt frühestens Mitte Dezember, wenn sich alle wieder Aug in Aug gegenübersitzen – mit Sicherheitsabstand.