Großbritanniens Premierminister Boris Johnson hat seine Landsleute aufgefordert, sich auf eine No-Deal-Lage vorzubereiten. Sollte die EU sich in den nächsten Tagen nicht noch eines Besseren besinnen und mit einer „fundamental geänderten Haltung“ aufwarten, müsse sein Land als „unabhängige Freihandelsnation“, ohne vertragliche Vereinbarung mit Europa, in die Post-Brexit-Zukunft ziehen.
Die Tür für eine vorläufige Fortsetzung der Verhandlungen mochte Johnson nicht vollkommen schließen. Gewiss sei man bereit, den Europäern weiter „Gehör zu schenken“. Allen EU-Repräsentanten müsse er aber sagen: „Kommt nur hierher, zu uns, wenn sich eure Einstellung grundlegend gewandelt hat.“ Wenige Stunden nach Johnsons Erklärung verschärfte der Sprecher der Regierungszentrale die Rhetorik noch mit den Worten: „Die Handelsgespräche sind vorbei. Die EU hat sie letztlich beendet, indem sie gesagt hat, ihre eigene Verhandlungsposition ändere sie nicht.“
Seine harschen Worte erklärte Regierungschef Johnson damit, dass sich die EU monatelang geweigert habe, „ernsthaft zu verhandeln“, und dass die von London gewünschte Art von Freihandelsvertrag – eine „kanadische Lösung“ – auf dem EU-Gipfel dieser Woche von der EU ausgeschlossen worden sei. Offenbar wollten die EU-Staaten „weiter Kontrolle über unsere gesetzgeberische Freiheit und unsere Fischereigründe ausüben“, was „für ein unabhängiges Land vollkommen unakzeptabel“ sei, so Johnson. Folglich bleibe ihm nichts anderes übrig, als seine Landsleute aufzufordern, sich nun zum 1. Jänner hin auf eine Zeit ohne spezielle Handelsvereinbarung mit der EU vorzubereiten, in der man „auf den simplen Prinzipien globalen Freihandels“ miteinander verkehren werde.
Mit seiner Erklärung rückte er das Vereinigte Königreich ein Stück weiter Richtung No-Deal, eines Scheiterns der mühsam laufenden Vertragsverhandlungen mit Brüssel. Britische Beobachter warnten übereinstimmend, Johnson habe für eine Lösung des Problems in letzter Minute „die Latte hoch angelegt“.
Überrascht waren die wenigsten vom Ton des Premiers. Dass Johnson „eine künstliche Krise“ hatte erzeugen wollen, um sich vor einem möglichen Kompromiss noch einmal als starker Mann und leidenschaftlicher Brexiteer zu präsentieren, war allgemein erwartet worden. Blätter wie die „Financial Times“ hatten vorausgesagt, dass der Regierungschef „das Gerede um No-Deal gewaltig aufpeppen“ werde. Brexit-Veteranen wie der frühere Brexit-Minister David Davis und Ex-Brexit-Staatssekretär Steve Baker hatten Johnson geraten, den Verhandlungstisch jetzt lieber nicht zu verlassen. „Boris sollte weiter mit denen reden“, meinte Davis. „Wenn die EU nur Zeit verschwenden will, wird wenigstens klar, wessen Fehler das ist.“ Mit der neuen Verwirrung, die zu scharfen Währungsfluktuationen führte, scheint sich Johnson Optionen offenhalten zu wollen. Noch im September hatte er erklärt, falls bis zum 15. Oktober kein Deal erzielt sei, sei auch kein Freihandelsvertrag mehr zu erwarten. Stattdessen geht die EU nun davon aus, dass am Montag EU-Chefunterhändler Michel Barnier trotz allem zu Gesprächen nach London reist. Einige Wochen blieben noch für Verhandlungen.
Beschleunigte Gespräche
Barnier hatte den Briten am Donnerstag „intensivierte und beschleunigte“ Gespräche angeboten, nachdem sich die britische Regierung beklagt hatte, dass das „Intensivierungs“-Versprechen aus dem Brexit-Kommuniqué des EU-Gipfels verschwunden war. Viel Unmut hatte in London die Erklärung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron ausgelöst, es liege nun ganz und gar an Großbritannien, der EU entgegenzukommen und den No-Deal zu verhindern. Dagegen hatte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel an Johnson appelliert, die Verhandlungen nicht abzubrechen. Auch die EU werde sich kompromissbereit zeigen müssen.
Wirtschaftsvertreter und Unternehmerverbände drängen auf weitere Verhandlungen. Die Firmen seien „überhaupt nicht vorbereitet“ für eine No-Deal-Situation. Neil Wilson, Chefanalyst der Finanz-Plattform markets.com, sprach die Befürchtung aus, dass Johnson womöglich nicht nur bluffe. Er finde sich „politisch wegen der Pandemie so unter Beschuss, dass er beim Brexit nicht nachgeben kann“.
Die oppositionelle Labour Party mahnte Johnson, „vom Rand des Abgrunds zurückzutreten“. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon meinte, ein No-Deal oder ein „Mini-Deal“, mit enormen Folgen, sei nun wohl unumgänglich geworden.