Der Gipfel in Brüssel mit einer ebenso langen wie komplizierten Außenpolitik-Agenda hatte gerade eben begonnen, als eine Erfolgsmeldung über die Agenturen kam. Griechenland und die Türkei haben sich auf einen Mechanismus zur Vermeidung militärischer Zwischenfälle im östlichen Mittelmeer geeinigt, es soll eine eigene Hotline eingerichtet werden, um Konflikte auf See oder in der Luft zu vermeiden; die Nachricht kam nicht aus dem Brüsseler EU-Viertel, sondern aus dem Stadtteil Haren – Hauptsitz der Nato.

Nicht lange davor hatte Bundeskanzler Sebastian Kurz im Gespräch mit Journalisten die harte Linie Österreichs in der Türkeifrage unterstrichen und Sanktionen durch die EU verlangt sowie neuerlich den Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Das „völkerrechtswidrige Verhalten“ der Türkei gegenüber den EU-Staaten Griechenland und Zypern fordere eine klare Reaktion. Der Umgang mit Menschenrechten sei ebenso inakzeptabel wie der „Einsatz von Migranten als Waffe“ gegenüber der EU.

Angela Merkel hingegen hatte sich davor für ein konstruktives Verhältnis zur Türkei „trotz aller Differenzen“ ausgesprochen. So, meinen Beobachter, spreche nicht nur das Nato-Land Deutschland, sondern auch das aktuelle Ratsvorsitzland, dem eine besondere Rolle des Ausgleichs und des Brückenbauens zukomme.

Harter Kurs Österreichs

Auf solche Feinheiten braucht Österreich nicht mehr zu achten, der Kanzler zeigte sich am Nachmittag kämpferisch: Die EU als riesige Wirtschaftsmacht sei nicht schwach und dürfe sich nicht erpressbar machen. Nachsatz: „Millionen von Europäern machen dort Urlaub.“ Zur Kleinen Zeitung sagte der Kanzler, er habe bewusst nicht den bestehenden Deal mit der EU erwähnt: „Das ist sicher ein Beitrag, Migrationsströme zu stoppen, es kann aber nicht die einzige Maßnahme sein.“ Kurz nannte Außengrenzschutz und Kampf gegen Schlepper: „Da ist noch viel Luft nach oben.“ Die Frage sei doch, ob man sich in die Knie zwingen lasse oder die starke Position der EU sehe. Wie das gehen könnte, skizzierte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell: Hafenverbote für türkische Schiffe, Handelsbeschränkungen oder Sanktionen gegen ganze Wirtschaftsbereiche.

Auch in einem anderen Punkt, der gar nicht auf der Tagesordnung steht, gehört Österreich zu den Ländern mit harter Linie. Parlamentspräsident David Sassoli warf den Mitgliedsstaaten eine Blockadehaltung bei den Verhandlungen zum nächsten mehrjährigen EU-Haushalt vor und verwahrte sich dagegen, dass das am Parlament liege: „Die Verzögerungen sind allein auf fehlende Gegenvorschläge des Rates zurückzuführen.“ Das Parlament fordert Nachbesserungen in mehreren Bereichen, Hauptstreitpunkt ist aber die Koppelung der EU-Gelder an die Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsländern. Ein Vorschlag Deutschlands wurde dazu zwar am Mittwoch angenommen, aber von Einigkeit ist man noch weit entfernt. „Problemländer“ wie Ungarn und Polen sind gegen den Plan, Österreich gehört hingegen zu jener Gruppe, die sich für weit strengere Regeln ausspricht.

Für Sebastian Kurz, der als Brückenbauer zu den Visegrád-Staaten wahrgenommen wird, ist das kein Widerspruch: „Dass ein guter Austausch automatisch dazu führt, dass Gesprächspartner ihre Meinung ändern, wage ich zu bezweifeln.“ Ungarns Positionen seien nicht überraschend.

Zahlreiche außenpolitische Baustellen

Ein Sondergipfel wie dieser schien notwendig, weil sich in der außenpolitischen Agenda der EU schon zu viele ungelöste Problemstellen aufgehäuft hatten. So ist der Konflikt zwischen Griechenland, Zypern und der Türkei Ursache dafür, dass die EU keine Sanktionen gegen Weißrussland ausspricht. Längst gibt es eine Liste von rund 40 Personen, die davon betroffen sein würden – aber Zypern wartet auf Entscheidendes gegenüber der Türkei und verweigert sich einem einstimmigen Sanktionsbeschluss.

In seltener Einmütigkeit verurteilen indessen die Präsidenten der USA, Russlands und Frankreichs die militärische Gewalt in der Konfliktregion Berg-Karabach und gaben damit dem Gipfel eine Vorlage.

Betont vorsichtig geben sich die Staats- und Regierungschefs noch rund um den Fall des russischen Oppositionellen Alexei Nawalny. Immerhin ist Russland Hauptverdächtiger (siehe rechts) und so wie schon damals bei der Affäre Skripal warten die Länder auf stichhaltige Beweise. Wenigstens dürfte sich der Gipfel zu einer klaren Verurteilung durchringen und den Anschlag damit im internationalen Rampenlicht lassen.

Binnenmarkt, Digitalisierung und die Beziehungen zu China sind die anderen großen Themen des Treffens, allerdings musste der Programmablauf wegen Emmanuel Macron umgedreht werden: Einige der Wirtschaftsthemen wurden vorgezogen, weil Macron heute nicht mehr dabei sein kann (und sich von Angela Merkel vertreten lässt).

Brexit-Drama um ein Kapitel reicher

Der Brexit, eines der informellen Randthemen, tauchte dafür ungeplant doch gestern schon auf dem Radar auf. Kurz vor Beginn des Gipfels hatte Ursula von der Leyen bekannt gegeben, dass die Kommission den ersten Schritt zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gestartet hat. Ein Brief ging nach London, innerhalb eines Monats muss eine Stellungnahme zurückkommen. Anlass ist das britische Binnenmarktgesetz, das am Dienstag vom Unterhaus gebilligt wurde und entscheidende Teile des 2019 von Premierminister Boris Johnson mit der EU geschlossenen Abkommens wieder aushebelt. Brüssel sieht das als Vertrauensbruch und Verstoß gegen internationales Recht. Das Gesetz muss zwar noch vom Oberhaus behandelt werden, das wäre aber eher eine Formsache.

Das EU-Verfahren kann in eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs und in hohe Strafzahlungen münden; wie zu hören ist, stehen alle 27 Mitgliedsländer hinter dem Vorstoß. An solchen Entscheidungen hält sich auch der Gipfel fest: Sie zeigen, dass die EU-27 im Ernstfall doch demonstrative Einigkeit zustande bringen.