Der EU-Sondergipfel hat begonnen, wie üblich gab es eine kurze Beratung mit Parlamentspräsident David Sassoli. Anders als ursprünglich geplant wird es beim auf zwei Tage anberaumten und bereits im Gange befindlichen Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel schon am Beginn um Wirtschaftsthemen gehen. Hintergrund der Planänderung ist, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wegen Verpflichtungen in Paris nicht am zweiten Tag des Gipfels teilnehmen kann, wie die Nachrichtenagentur AFP aus EU-Kreisen erfuhr.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat kurz vor Beginn des EU-Gipfels Sanktionen der Europäischen Union gegenüber der Türkei gefordert. Das "völkerrechtswidrige Verhalten" der Türkei gegenüber den EU-Staaten Griechenland und Zypern fordere eine klare Reaktion. Dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan müsse man "endlich rote Linien" aufzeigen, so Kurz. Daher fordere er auch die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abzubrechen.

Es sei seit lang "seit langem unerträglich wie mit Journalisten und Oppositionspolitikern in der Türkei" umgegangen werde. Außerdem sei es "nicht akzeptabel", dass die Türkei "Migranten als Waffe" gegenüber Europa einsetze. Im vergangenen Jahr habe man erlebt, dass das "Nicht-Reagieren auf türkische Provokationen" nicht zu einer Beendigung des türkischen Fehlverhaltens führe, im Gegenteil "die Grenzen verschieben sich immer weiter, wenn man keine rote Linien aufzeigt."

Die EU sei eine riesige Wirtschaftsmacht und Millionen Europäer würden jedes Jahr in die Türkei auf Urlaub fahren. "Wir sind nicht schwach in Europa", betonte Kurz, allerdings dürfe man sich auch nicht von Erdogan erpressen lassen. Eine Blockade eines Gipfelbeschluss, sollte es zu keinen Sanktionen gegenüber der Türkei kommen, schloss Kurz aber aus.

Heikle Fragen beim Abendessen

Beim Abendessen sollen dann die heikle Frage nach Sanktionen gegen Belarus und das Verhältnis zur Türkei zur Sprache kommen. Erst am Freitag stehen demnach dann die Beziehungen zu China auf dem Programm, die ursprünglich schon am Donnerstag beraten werden sollten.

Formal werde die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ihren französischen Kollegen während seiner Abwesenheit am Freitag vertreten, hieß es aus französischen Regierungskreisen.

Ursprünglich waren die Gipfelberatungen zur Wirtschaftspolitik für Freitag angesetzt. Im Debattenfokus liegt dabei die "strategische Autonomie" der EU im Industrie- und Digitalbereich. Die gezielte Förderung europäischer Unternehmen und ihr Schutz vor staatlich geförderter Konkurrenz aus Drittstaaten sind besondere Anliegen Macrons.

Außenpolitisch geht es um die seit Wochen geplanten Sanktionen wegen der umstrittenen Präsidentschaftswahl in Belarus. EU-Mitglied Zypern blockiert diese bisher, weil es gleichzeitig weitere Sanktionen gegen die Türkei wegen des Streits um Gas-Bohrungen im östlichen Mittelmeer fordert. Eine konkrete Lösung war vor dem Treffen nicht in Sicht.

Am Donnerstagabend beraten die Staats- und Regierungschefs aber auch über das Gesamtverhältnis zur Türkei und suchen nach Wegen, Ankara zu einem Entgegenkommen zu bewegen. Befassen wird sich der Gipfel auch mit der Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny. Die deutsche Bundesregierung erwartet eine Verurteilung des Anschlags, aber noch keine Sanktionen gegen Moskau. Zudem steht der Konflikt um Berg-Karabach auf der Agenda.

Selten gab es bei einem EU-Gipfel so viele Probleme und so wenig fertige Lösungen. Wenn die EU-Staats- und Regierungschef ab Donnerstagnachmittag in Brüssel zusammenkommen, geht es vor allem darum, Handlungsfähigkeit in der Außenpolitik zu demonstrieren. Doch das zweitägige Treffen wird auch von schweren inneren Konflikten überschattet. Ein Überblick:

Weißrussland (Belarus)

Schon kurz nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl im August hatte die EU Sanktionen angekündigt. Mittlerweile gibt es eine Liste mit mehr als 40 Belarussen, die für Wahlbetrug und Gewalt gegen Demonstranten verantwortlich gemacht werden. Doch Zypern blockiert den Sanktionsbeschluss. Es will gleichzeitig weitere Strafmaßnahmen gegen die Türkei wegen des Streits um Gas-Erkundungen im östlichen Mittelmeer erzwingen.

Türkei

In dem Konflikt um Belarus-Sanktionen soll eine Debatte am Donnerstagabend über das Gesamtverhältnis zur Türkei helfen. Ziel sei ein Dialog mit Ankara, das sich dafür aber "konstruktiv" verhalten müsse, schrieb EU-Ratspräsident Charles Michel in seinem Einladungsschreiben. Es blieben aber "alle Optionen auf dem Tisch". Dies bedeutet, dass die EU Sanktionen nicht ausschließt. Gleichzeitig prüft sie aber, ob sie Ankara etwa mit neuen Gesprächen über eine erweiterte Zollunion zu einem Entgegenkommen im Gas-Streit bringen könnte.

Berg-Karabach

Der Gipfel will nach dem Entwurf für seine Schlussfolgerungen zu "einem sofortigen Ende der Feindseligkeiten" in dem Konflikt um die Kaukasusregion aufrufen. Zudem fordert er ausländische Mächte auf, sich aus dem Konflikt herauszuhalten. Auch hier spielt die Türkei eine wichtige Rolle, da es Aserbaidschan unterstützt. In Armenien ist dagegen Russland militärisch präsent.

Alexej Nawalny

Der Gipfel will den Giftanschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny mit einem militärischen Nervenkampfstoff aus der Nowitschok-Gruppe verurteilen. Eine Debatte über Sanktionen ist noch nicht geplant, da die abschließende Bewertung durch die Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OVCW) noch aussteht.

China

Der Gipfel will die EU-Videokonferenz mit Chinas Staatspräsident Xi Jinping am 14. September bewerten. Die Staats- und Regierungschefs wollen nach dem Erklärungsentwurf dazu aufrufen, die Verhandlungen über ein seit langem geplantes Investitionsabkommen bis Jahresende abzuschließen. Sie begrüßen auch, dass Peking nun vor dem Jahr 2060 das Ziel der Klimaneutralität erreichen will. Gleichzeitig will der Gipfel seine "ernsthafte Besorgnis" zur Lage in Hongkong und zur Behandlung von Minderheiten äußern.

Stärkung des EU-Binnenmarktes

Nicht nur wegen des Wirtschaftseinbruchs durch die Corona-Krise wollen die Staats- und Regierungschef schon lange geplanten Reformen des EU-Binnenmarktes einen Schub geben. Bei der Wirtschaftspolitik steht die "strategische Autonomie" der EU im Fokus. Die stärkere wirtschaftliche Unabhängigkeit von Drittstaaten sei "ein Schlüsselziel der Union", heißt es im Gipfelentwurf. Er fordert zudem eine "ehrgeizigere europäische Industriepolitik" etwa bei der Batterieproduktion oder Mikrolelektronik.

EU-Finanzstreit

Nicht offiziell auf der Agenda, aber ein zentrales Thema sind die Probleme, den Hilfsfonds gegen die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise auf den Weg zu bringen. Viele Länder seien beunruhigt, dass sich der zu Jahresbeginn 2021 geplante Start des 750 Milliarden Euro schweren Corona-Fonds verzögern könnte, sagt ein EU-Vertreter. Dies liegt an den stockenden Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten und dem Europaparlament über den nächsten EU-Mehrjahreshaushalt, mit dem der Corona-Fonds eng verknüpft ist.

Ärger um die Rechtsstaatlichkeit

Schlecht für die Stimmung dürfte auch der sich zuspitzende Konflikt um die Rechtsstaatlichkeit sein. Vor allem Ungarns Regierungschef Viktor Orban wehrt sich vehement gegen Vorwürfe aus Brüssel, er habe die Unabhängigkeit der Justiz und die Medienfreiheit massiv eingeschränkt. Er hat in dem Konflikt in der Vergangenheit schon mehrfach mit einem Veto auch bei anderen EU-Themen gedroht.

Brexit

Die Verhandlungen mit London über ein Handelsabkommen stecken seit Monaten in einer Sackgasse. Der Gipfel will das aber vorerst nur mit einem kurzen "Informationspunkt" abhaken. Großes Thema wird der Brexit dann beim regulären EU-Gipfel Mitte Oktober.